Zu den Romanen, die die sächsischen Pogromereignisse des Jahres 1938 thematisieren, zählt auch Erich Loests Buch ‚Völkerschlachtdenkmal‘, der 1984 erschien – drei Jahre nach Loest Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik.
Geschichte eines Sprengmeisters
Der Protagonist des Romans, der ehemalige Sprengmeister CARL FRIEDRICH Fürchtegott Vojciech Felix Alfred LINDEN wird mit siebzig Jahren in Anstalt Dösen eingewiesen, weil er das Leipziger Völkerschlachtdenkmal zu sprengen beabsichtigte. Bei den Vernehmungen berichtet er auch über die Geschichte seines Vaters Felix Linden, der als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient habe, dann allerdings verstört zurückgekehrt sei (hier und im Folgenden: Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal. Roman, 3. Aufl., München 1991, S. 100). Ab Sommer 1932 sei der Vater dann SA-Mann gewesen. Während einer SA-Spendensammlung habe er auf der Straße den ehemaligen Leutnant und Pelzhändler Katzenstein wiedergesehen, den er bereits in den Jahren zuvor zu verschiedenen Anlässen getroffen hatte (S. 110 f.).
Der Pogrom in Leipzig im Roman
Auch den 9. November 1938 erlebt Felix Linden als SA-Mann. Loest schrieb dazu:
„Eines Abends wurde Felix Linden alarmiert. Ein SA-Mann rannte zum anderen, der zum dritten, ausgeklügelt war, was zu geschehen hatte, wenn einer nicht anzutreffen war. Abends um neun am Johannapark, hieß es, in der Tauchnitzstraße, Zivil, unauffällig! Nicht darüber reden, Geheimeinsatz! ‚Was wird sinn?‘ fragte Klärchen; er zuckte die Schultern.
Als Felix Linden die Tauchnitzstraße entlang ging, sah er den einen oder anderen aus seinem Sturm, sie trugen Mäntel, Mützen und Hüte, es war eine Zeit, in der auch Arbeiter Hüte trugen. Manche hatten im Radio gehört, ein Jude hätte in Paris einen deutschen Botschaftsangehörigen erschossen – Rache! schäumten sie, das sollen uns die Juden büßen! Wenn das Judenblut vom Messer spritzt! Dieser SA-Sturm sollte das angeblich spontane Umfeld bilden, er füllte eine Seitenstraße, aus der Gruppe der ‚Deutschen Eichen‘ [d. i. eine Gruppe SA-Männer] heraus erschollen Rufe, Beifallsklatschen auch, als Flammen hinter den Glasscheiben glühten. Von seinen Führern hörte er, das sei erst der Anfang dieser Nacht, gleich würden sie zum Brühl weiterziehen, heute flögen die Fetzen. Da machte er sich aus seiner lockeren Formation heraus und drängte nach vorn, dort war Gelegenheit, durch einen Hauseingang und über einen Hof zu verschwinden. Glutrot fiel der Schein der lodernden Synagoge auf eine Mauer, dahinter war ein Garten, Felix Linden brach mit der Wucht seiner Pranken und dem Gewicht seines Körpers ein Zaunfeld nieder, keuchte durch den Park, über eine Elsterbrücke, rammte sich den Weg durch Menschen, die ins Zentrum eilten, und kam vor die Villa des Pelzhändlers Katzenstein, ehe der Plan der NS-Kreisleitung dort das Aufflammen des Volkszorns vorgesehen hatte. Er nahm den Daumen nicht von der Klingel, ehe nicht Licht hinter den Fenstern wurde, ehe nicht ein Kopf zwischen Gardinen zu sehen war, der Kopf einer Frau mit ungekämmtem Haar. Als er schließlich meinte, über sich das Gesicht Katzensteins zu sehen, rief er: ‚Ich komm vom Deutschen Patrioten-Bund!‘
Das war schlichtweg idiotisch, der Patrioten-Bund war längst entschlafen, aber dieser Begriff war ein Ruf aus alter Zeit, da drang etwas aus verschütteten Gründen heraus, Gemeinsamkeit wurde beschworen, ein Stück unversehrter Welt. Das Wort ‚deutsch‘ gar zum Juden Katzenstein, es war absurd.
‚Sie müssen sofort weg‘, sagte Vater, als Katzenstein die Tür geöffnet hatte. Felix Linden erinnerte weder an die Gipfelweihe des Denkmals noch an das Treffen mit dem Erstürmer des Douaumont. ‚Gleich werden sie kommen.‘ Er sagte: Sie werden kommen, ohne zu erläutern, wer gemeint war, deutlichere Worte standen ihm nicht zur Verfügung, er konnte nicht warnen: Die Faschisten kommen, die Mordbrenner. ‚Durch den Garten, sofort weg!‘ Felix Linden ging auf die Straße zurück und auf die andere Seite hinüber, von dort sah er, wie im Haus im schnellen Wechsel Lampen aufflammten und erloschen. Der Proletarier hatten den Großbürger gewarnt, der SA-Mann den Fremdvölkischen, die ‚Deutsche Eiche‘ den sogenannten Ostjuden. Zur Innenstadt kehrte mein Vater zurück, knirschend über Glas, wich Lastwagen aus, querte den Markt und den Augustusplatz. Eine Bahn fuhr nach Stötteritz, er stellte sich auf den hinteren Perron, er hätte die Hände vorstrecken und bitten mögen: Sie stinken nicht nach Benzin, hab keine Asche am Mantel, Arbeiter bin ich, von Schicht komm ich und fahr friedfertig nach Hause!
Die nächsten Male mied er den SA-Dienst, später meldete er sich krank. Mein Vater ein Nazi? Ich will ihn nicht besser machen, als er war“ (S. 115-117).
Felix Lindens Romanschicksal endet nach einem Luftangriff auf Leipzig: Als Brandbekämpfer erstickt er in einem brennenden Haus (144 f.).
Loest setzte sich in seinem Roman auch mit seiner eigenen Vergangenheit als HJ- und NSDAP-Mitglied wie Wehrmachtssoldat auseinander.