Monthly Archives: Januar 2018

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (5): Zur abgebrannten Synagoge gegangen

Die Inaugenscheinnahme der Synagogenruinen, zerstörten Geschäfte und Einrichtungen konnte auch einen Akt der Aufrichtigkeit oder Widerständigkeit darstellen. Reinhold Müller, dessen Vater seit 1934 der Bekennenden Kirche angehörte, war nach der Auflösung des Chemnitzer CVJM ab 1940 im Jugenddienst Kreuz aktiv.

Mit dem Vater zur Synagogenruine

Müller erlebte die Pogromgewalt in Chemnitz nicht selbst, da er im Internat der Herrenhuter Brüdergemeine in Klein Welka bei Bautzen weilte.

Über einen Besuch in Chemnitz nach den Pogromen erinnerte er sich:

„Ein entscheidender Wendepunkt war die ‚Reichskristallnacht‘. Ich habe sie zwar selbst nicht miterlebt, weil ich nicht in Chemnitz war. Aber mein Vater hat mir einiges erzählt, was sich damals abgespielt hat, und er ist mit mir zur niedergebrannten Synagoge auf dem Kaßberg gegangen. Die Ruinen dieses Gotteshauses sprachen für sich selbst. Der Zahnarzt Zinkler – seine Söhne und später auch die Tochter waren bei uns im Jugenddienst Kreuz – war mit seinen Kindern ebenfalls zur abgebrannten Synagoge gegangen und hatte gesagt: ‚Heute brennt die Synagoge – unsere Kirchen werden genauso brennen‘ – und sie brannten ja auch. Er bestand – trotz der Judendiffamierung – darauf, dass seine Kinder weiter mit den jüdischen Kindern spielten“ (Müller, Reinhold: Bekenntnis und Zeugnis. Evangelische Jugend im Widerstand, Salzgitter 2006, S. 63). Müller griff dabei auch auf einen Bericht von  Eberhard Rudolph zurück. Unter dem Namen Zinkler finden sich für das Jahr 1938 zwei Zahnärzte im Chemnitzer Adressbuch eingetragen. Wahrscheinlich aber handelte es sich um den Zahnarzt Wilhelm Winkler, der im Adressbuch für 1939 nunmehr allein verzeichnet ist.

Müller wurde 1942 zur Luftwaffe eingezogen und kam 1945 in britische Kriegsgefangenschaft. Bis zur Einberufung arbeitete er aktiv in der christlichen Jugendarbeit.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (4): Eine Hundertjährige erinnert sich

Im November 2002 feierte Gertrud Ihle aus Chemnitz ihren 100. Geburtstag. Aus diesem Anlass interviewte sie die Vorsitzende des Chemnitzer Geschichtsverein, Gabriele Viertel. Ihles Onkel Emil Junghanns hatte als Hausmeister der Synagoge gearbeitet. Sie selbst habe für die jüdische Saxonia-Loge gewirkt.

Der Synagogenbrand

Auch den Brand der Synagoge erinnerte Ihle:

„Am 9. November haben wir nur den Schein gesehen, wie die brannte. […] Da war der Himmel hell. Meine Cousine wohnte in der Ahornstraße, die haben direkt gesehen, wie die Synagoge brannte. Wie sie an allen Ecken und Enden angezündet wurde. […] Wir haben das alle gesehen, der Himmel war doch hell. Die große Synagoge, wie die lichterloh gebrannt hat. Und die stand doch auch auf der Höhe“ (Ihle, Gertrud; Viertel, Gabriele: Gespräch mit Gertrud Ihle über ihre Arbeit an der Chemnitzer Synagoge, in: Chemnitzer Geschichtsverein e. V. (Hg.): Chemnitzer Schicksale, Chemnitz 2002, S. 44–52, hier: S. 48).

Ihle berichtete auch, dass sie am Folgetag nicht bei der Synagogenruine gewesen sei, da alles noch geraucht habe und abgesperrt gewesen sei. Zwar hätten die Ruine viele gesehen, doch habe Angst und Schrecken geherrscht (ebd., S. 49).

Ihles Bericht ist ein Beispiel für die Erinnerungen von Personen, die die Pogromereignisse als Erwachsene erlebte. Gleichwohl zeigt das Interview auch, dass der lange zeitliche Abstand die genaue Rekonstruktion des Erlebten erschwert.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (3):Familie Sachs

Wie brutal und unvorbereitet Pogromgewalt und Verhaftungen als Juden verfolgte Menschen trafen, erlebte auch die Familie Cohn in Chemnitz. Am 9./10. November 1938 gaben sich der bereits in Buenos Aires lebende Günther Sachs und die in Chemnitz verblieben Hanna Luise Cohn per Fernheirat das Jawort.

„Macht endlich uff, ihr Judenschweine“

Dann traf Cohns die Gewalt der Pogrome. Eberhard Keil, der sich intensiv mit der Unternehmerfamilie Sachs beschäftigt hat, schreibt darüber wie folgt:

„Dort, in Chemnitz hatte bereits ein neuer Tag begonnen und es war vier Uhr in der Nacht. Da setzte an der Tür der Cohn’schen Wohnung lauter Lärm ein, Fäuste schlugen gegen das Holz und es klingelte ununterbrochen Sturm. ‚Rauskommen, Cohn! Raus, na, wird’s bald!‘ ‚Macht endlich uff, ihr Judenschweine!‘ Während sich Dr. Fritz Cohn anzog und seine Frau vor Schreck erstarrte, rannte Hanna in die Küche und suchte etwas Essbares zusammen, das sie eilig in Papier einschlug und dem Vater in die Hand drückte. Der öffnete die Tür und wurde sofort von einem groben Kerl in SA-Uniform am Mantel gepackt und rausgezerrt. ‚Cohn, Fritz?‘ schrie man ihn an. Er nickte, sagte leise ‚Ja‘ und hatte den Lastwagen zu besteigen, auf dem sich schon andere Männer befanden. Nach zehn Minuten war der Spuk vorbei, der Vater weg, die Mutter weinte, und Hanna rannte zu Bekannten und Verwandten in der Hoffnung, noch irgendjemand waren zu können“ (Keil, Eberhard: Die Sachswerk-Saga, 1914-1945. Eine Industrie-Geschichte aus Böhrigen, Chemnitz und der ganzen Welt, Marbach am Neckar 2006, S.6).

Nach Buchenwald

Fritz Cohn wurde ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt, wo er schreckliche Wochen erlebt habe (vgl. ebd., S. 246). Nach der Haft emigrierte er nach Norwegen, von wo er im Herbst 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Dort kam er im Januar 1943 um.

 

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (2): Siegmund Rotstein

Siegmund Rotstein, der 1925 geboren wurde, war bis 2006 vierzig Jahre lang Vorsitzender der Chemnitzer Jüdischen Gemeinde. Leitende Funktionen hatte er zu DDR-Zeiten auch im Verband der Jüdischen Gemeinden, für dessen Nachrichtenblatt er als Redakteur wirkte.

Als Kind nach Theresienstadt

Rotstein erlebte die zunehmende Entrechtung der als Juden Verfolgten in Chemnitz als Kind. Er wurde ins Ghetto Theresienstadt deportiert, das er überlebte. Er kehrte nach Chemnitz zurück und ist bis heute Ehrenvorsitzender der dortigen Jüdischen Gemeinde.

Die Pogrome in Chemnitz

Als knapp 13-jähriger erlebte Rotstein die Pogromgewalt in Chemnitz am 9./10. November 1938. Er schrieb darüber einige Zeilen in einem Geleitwort eines kleinen Bandes zu der Berliner Ausstellung „Und lehrt sie: GEDÄCHTNIS!“, die 1988, im Jahr des 50. Jahrestags der Pogrome stattfand:
„Tief haben sich mir jene Ereignisse der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 für immer in mein Gedächtnis eingeprägt. An diese Novembertage meiner Kindheit denke ich mit Schrecken. In meiner Heimatstadt Chemnitz – dem heutigen Karl-Marx-Stadt – wurden, nachdem kurz zuvor über 300 jüdische Bürger polnischer Nationalität ausgewiesen worden waren, die Geschäfte jüdischer Inhaber zertrümmert; die 1899 geweihte Synagoge brannte und wurde Opfer der Flammen. Die Kosten für die Beseitigung der Trümmer hatte die Chemnitzer Jüdische Gemeinde zu tragen.
Während des Pogroms wurden auch in Chemnitz Juden ermordet, so z. B. der Direktor des Warenhauses Tietz“ (Rotstein, Siegmund: Zum Geleit, in: Grabowski, Jörn; Strohschein, Ruth (Red.): „Und lehrt sie: GEDÄCHTNIS!“. Eine Ausstellung des Ministeriums für Kultur und des Staatssekretärs für Kirchenfragen in Zusammenarbeit mit dem Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR zum Gedenken an den faschistischen Novemberpogrom vor fünfzig Jahren, Berlin 1988, S. 9).
Rotstein verwies in diesen Worten nicht nur auf die Verbindung von ‚Polenaktion‘ und Novemberpogromen, sondern auch auf die Ermordung des Tietz-Geschäftsführers Hermann Fürstenheim, dem einzigen Mordopfer während der Nacht des 9./10. November. 1938.

Die Auseinandersetzung mit den Pogromen nach 1945 (1): Erich Lodni

Bedingt durch das antifaschistische Gründungsverständnis und Geschichtsbild der DDR sowie die Hintansetzung der als Juden verfolgten Menschen in der offiziellen Erinnerungspolitik erschienen in den ersten Jahrzehnten nach 1945 nur wenige Beiträge, die sich auch mit der Pogromgewalt auseinandersetzten. Neben Beiträgen im Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik waren es vor allem kleinere Zeitungsartikel, die das Thema aufnahmen.

Erich Lodni und die Verfolgung der Juden in Bautzen

1963 publizierte der Bautzener Stadt- und Kreisbibliothekar Erich Lodni (1902-1985, Foto) einen umfangreichen Aufsatz über die Pogrome in Bautzen und dem benachbarten Wilthen in der Zeitschrift Bautzener Kulturschau. Der Autor nutzte dabei nicht nur die beiden einzigen heute von Bautzen und Wilthen bekannten Fotografien zu den Ereignissen, sondern verfolgte ein höheres Ziel:

„Einem großen Teil unserer Jugend sind diese Greueltaten unbekannt, deshalb müssen wir ihr mit rückhaltloser Offenheit die Wahrheit sagen. Wir müssen ihr auch sagen, daß die nazistischen Bestien von damals heute in Westdeutschland wieder ihr Unwesen treiben und den staatlichen Machtapparat in der Hand haben“ (S. 5).

Auch, wenn die im Kontext der Blockkonfrontation stehenden Vorwürfe gegen die damalige Bundesrepublik in ihrer Rhetorik heute eher befremden, so bleibt Lodnis Forderung nach Unterrichtung der Jugend bis heute zeitlos. Sein grundlegender Artikel, der auch die Verfolgung der Täter nach 1945 in den Blick nahm, bildet bis heute eine wichtige Grundlage für weitere Forschungsvorhaben und die Auseinandersetzung mit den Bautzener Pogromen.

Zum Nachlesen: Lodni, Erich: Die Bautzener Kristallnacht 1938. Vor 25 Jahren, am 10. Nov. 1938, erlebte Bautzen die unmenschlichen Judenverfolgungen, in: Bautzener Kulturschau 13 (1963), 11, S. 2–5.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (12): Treuener Tageblatt und Anzeiger

Am Schluss des kleinen Überblicks zur Presseberichterstattung über die lokalen Pogromereignisse steht heute die Zeitung Treuener Tageblatt und Anzeiger.

Bericht über die Pogrome in Treuen

In einem knappen Beitrag finden sich – auch hier im antisemitischen Duktus der durch das nationalsozialistische Regime gesteuerten Presse – kurze Hinweise auf Zerstörung und Verhaftungen. So heißt es:

„*Judenfeindliche Kundgebungen. Gestern nachmittag kam es auch bei uns in Treuen, wie in so vielen anderen Städten des Deutschen Reiches, zu Demonstrationen gegen das Judentum. Die Schaufenster eines Konfektionshauses am Markt wurden von den Demonstranten eingeschlagen. Unsere Polizeiorgane hielten unter den zahlreichen Neugierigen Ordnung, nachdem die Demonstranten abgezogen waren. 3 in Treuen wohnende Juden wurden in Schutzhaft genommen. Die berechtigte Rache gegen den feigen Judenmord an unserem deutschen Diplomaten in Paris hat sich durch diese Demonstration ein Ventil gesucht“ (Treuener Tageblatt und Anzeiger 82, 264 (11.11.1938), S. 3).

Zertrümmert wurde der Laden von Siegbert Herzfeld in der Kirchgasse 1. Herzberg wurde eine Woche lang inhaftiert, entging aber der Überstellung ins Konzentrationslager Buchenwald. Er wurde 1942 von Plauen nach Theresienstadt deportiert, wo er kurze Zeit später verstarb. Auch die meisten Mitglieder seiner Familie kamen während der Schoa ums Leben. Lediglich die Tochter Marianne gelangte 1939 mit einem Kindertransport nach England.

Mehr zur Siegbert Herzfeld und seiner Familie bei: Pöllmann, Werner: Zwei Geschäftshäuser am Treuener Markt. Was wurde aus den Juden der vogtländischen Kleinstadt?, in: Vogtländische Heimatblätter 28 (2008), 6, S. 11–14, hier: S. 12 f.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (11): Werdauer Zeitung für Stadt und Land

Unter der Überschrift „Abwehraktion gegen das Judentum auch in Werdau“ berichte die Werdauer Zeitung am 11. November 1938 über die lokalen Pogromereignisse:

„Wie überall im ganzen Deutschen Reich, wurde gestern auch in Werdau eine als Antwort auf die feige, jüdische Mordtat in Paris zu wertende Abwehraktion gegen das Judentum durchgeführt. Das jüdische Kaufhaus Ringer wurde in jenen Zustand versetzt, in den Alljuda das ganze deutsche Volk stürzen wollte. Den jüdischen Geschäftsinhabern, die festgenommen und abtransportiert wurden, wurde kein Haar gekrümmt. Naturgemäß nahm eine zahlreiche Menschenmenge an diesem Ereignis als Zuschauer teil. Der Wille, dem Abscheu gegenüber der jüdischen Mordgier Ausdruck zu verleihen, kann vor dem Einzelnen nicht Halt machen. Juda hat es nicht anders gewollt und alle müßen nun für die Taten büßen, die Deutschlands Geduld bis zur Neige erschöpften. In unserem heutigen Leitartikel, den wir allen unseren Lesern der Beachtung empfehlen, wird ein ganz kleiner Ausschnitt aus dem verbrecherischen Treiben der Juden in Deutschland der Nachkriegszeit gegeben; er zeigt, daß es gegenüber dem Judentum, das als Ganzes gewertet und behandelt werden muß, keinerlei Sentimentalität mehr geben kann“ (Werdauer Zeitung für Stadt und Land 58, 264 (11.11.1938), 1. Bl., S. 5).

Antisemitische Rechtfertigung und Hetze in der Lokalpresse

Im Gegensatz zu anderen lokalen Blättern, offenbarte die Werdauer Zeitung einen deutlich stärkeren antisemitischen Tenor: Die Beschwörung der ‚gerechten Vergeltung‘ für die angeblichen Taten ‚Alljudas‘ durchziehen den Beitrag. Zudem werden die Leser nicht nur auf weitere antisemitische Beiträge in der Zeitung hingewiesen, die den offenen Judenhass und damit auch die Gewalt des Vortrags rechtfertigen sollen. Sie werden indirekt auch davor gewarnt, sich mit den Verfolgten zu solidarisieren und ‚Sentimentalität‘ zu unterlassen.

Die Pogromgewalt in Werdau

Ein zweiter Artikel in der Zeitung nimmt sich im selben Sprachduktus noch einmal der Übergriffe auf den Kaufhausbesitzer Hermann Ringer an:

„Wir in Werdau dürfen uns ja glücklich preisen, nur ein einziges jüdisches Unternehmen in unserer Stadt zu wissen, vor dem die Erregung natürlich nicht halt machen konnte. So drangen gestern in der Mittagsstunde einige Männer in die Wohnung des Inhabers ein, nahmen dort eine regelrechte Durchsuchung vor, wobei die Erregung so groß war, daß Zerstörungen nicht ausbleiben konnten. Der Eingang zum Laden wurde sofort versperrt, und in den Schaufenstern gab es ein wüstes Durcheinander der dort ausgestellt gewesenen Gegenstände. Beschädigungen der Schaufenster erfolgten nicht, es wurde lediglich noch die Firmentafel über den Geschäftsräumen entfernt und die beiden Firmeninhaber, Vater und Sohn, der Schutzhaft zugeführt. Es versteht sich, daß gestern bis in die Nachtstunden sich immer wieder die Verkehrsteilnehmer auf beiden Bürgersteigen vor dem betroffenen Hause stauten und lebhaft ihrem tiefen Abscheu über das gemeine Verbrechen in Paris und ihrer Genugtuung über den an Juda verübten Vergeltungsakt Ausdruck gaben“ (Werdauer Zeitung für Stadt und Land 58, 264 (11.11.1938), S. 2).

Hermann Ringer, der sein Kaufhaus 1900 eingerichtet hatte, wurde während der Pogrome schwer misshandelt. Er starb an den Folgen der Gewalt im Elsass, wohin er anschließend emigriert war.

Mehr zum Hermann Ringer bei: Beier, Hans-Jürgen (Red.): Chronik der Stadt Werdau, Teil II: Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Horb am Neckar 2008, S. 101 f.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (10): Pirnaer Anzeiger

Der Pirnaer Anzeiger berichte am 11. November 1938 ebenfalls über die regionalen und lokalen Pogrome. Im Tonfall äußerten sich die entsprechenden Absätze deutlich antisemitisch. Die Autoren hoben den ‚Racheakt‘ für das Attentat auf den Pariser Botschaftsmitarbeiter dabei besonders hervor.

Die Pogrome in Pirna

Zu den Pirnaer Pogromen schrieb das Blatt:

„In Pirna machte sich der Zorn gegen die Mordjuden ebenfalls in verschiedenen Aktionen Luft. U. a. wurden die Scheiben jüdischer Geschäfte zertrümmert und einige Juden in Schutzhaft genommen. Am Donnerstagnachmittag fand auf dem Markt eine Kundgebung statt, in der Pg. Hugo Müller scharfe Worte gegen die Juden richtete. Im Anschluß daran zog man vor die jüdischen Kaufhäuser“ (Pirnaer Anzeiger 129, 265 (11.11.1938), S. 2).

Die Nennung von Tatbeteiligten

Eine Besonderheit der Ausführungen zu Pirna ist der darin genannte Name eines Tatbeteiligten: Dem ‚Parteigenossen‘ Hugo Müller, der bei der am 10. November 1938 am Nachmittag auf dem Markt stattfindenden Kundgebung wüste antisemitische Hetze betrieb. Im Anschluss an seine Rede seien die Kundgebungsteilnehmer dann vor die ‚jüdischen‘ Kaufhäuser der Stadt gezogen. Betroffen waren die Konfektionsgeschäfte von Jurmann und Weiner sowie das EHAP und das Schuhkaufhaus Neustadt.

Wer also war Hugo Müller, der offensichtlich als Ortsgruppenleiter der NSDAP fungierte? Bislang scheint zu seiner Person wenig bekannt zu sein. Das Adressbuch für Pirna listet für 1938 zwei Personen dieses Namens auf. Bei dem in der SLUB Dresden geführten Exemplar wurden offensichtlich nach Kriegsende die Seiten über die Gliederung der Pirnaer NSDAP entfernt. Sie sind in der digitalen Fassung jedenfalls nicht vorhanden. Der Spur nach Müller und weiteren Tätern zu folgen, bleibt also eine Aufgabe, der noch nachgegangen werden kann.

Zum Weiterlesen:

Jensch, Hugo, Pirna unterm Hakenkreuz, 1933-1945, online unter: http://www.geschichte-pirna.de/Pirna%20unterm%20Hakenkreuz%201933.pdf (24.01.2018), bes. S. 80 f.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (9): Oelsnitzer Volksbote

In Oelsnitz im Erzgebirge richtete sich die Pogromgewalt auch gegen die dortige Filiale des Kaufhauses Schocken.

Ein antisemitischer Zeitungsartikel

Der Oelsnitzer Volksbote berichtete darüber am 10. November 1938:

„Verständliche Folgen der Empörung. Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten vom Rath haben sich im ganzen Reiche spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. Die tiefe Empörung des Volkes machte sich auch in Oelsnitz i. E. in einer antijüdischen Aktion gegen das Kaufhaus Schocken und gegen einen Juden in der Bahnhofstraße Luft. An allen Orten des Reiches ist die Polizei zum Schutze der Juden eingesetzt“ (Oelsnitzer Volksbote 75, 263 (10.11.1938), S. [5]).

Das Kaufhaus als ‚Feindbild‘

Auch hier wurde wieder, im Einklang mit den NS-Presseanweisungen, ein ‚spontaner Volkszorn‘ für die Pogromgewalt verantwortlich gemacht. Die Maßnahmen waren indes durch das Regime organisiert.

In Oelsnitz wie auch in anderen sächsischen Städten – etwa in Chemnitz oder Freiberg – war unter anderem das Warenhaus Schocken Ziel der Pogromgewalt. Eingangsbereich und Schaufenster wurden demoliert. In den Folgetagen standen SA-Männer Wache vor dem Gebäude, dass dann ‚arisiert‘ wurde (siehe dazu Rößler, Horst: Oelsnitz im Erzgebirge. Bildchronik, Bd. 3: 1926-1949, Stollberg 1998, S. 98).

Gerade die Kaufhäuser verkörperten in der nationalsozialistischen Propaganda die ‚jüdische Zersetzung‘ der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Sie waren immer wieder Ziel antisemitischer Publizistik und von Kaufboykotten. Das Oelsnitzer Schocken war so auch schon 1933 vom antisemitischen ‚Boykott‘ betroffen.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (8): Erzgebirgischer Volksfreund

Ausführlicher auf die Pogrome in Aue ging die Zeitung Erzgebirgischer Volksfreund am 11. November 1938 ein.

‚Schutzhaft‘ und Demonstrationen

In dem kurzen Bericht heißt es:

„Die über den feigen Mord an dem Gesandtschaftsrat vom Rath empörte und aufgebrachte Menschenmenge ist in sämtliche Wohnungen und Geschäfte der in Aue wohnhaften Juden eingedrungen und hat die Einrichtungen zerstört. Sämtliche männliche Auer Juden und ein zufällig sich hier aufhaltender jüdischer Reisender mußten von der Polizei in Schutzhaft genommen werden. Erregte Menschenmengen durchzogen die Stadt und sangen Kampflieder. Im übrigen nahm das Leben in der Stadt seinen normalen Verlauf. Am Abend war die Ruhe vollständig wieder hergestellt“ (Erzgebirgischer Volksfreund 91, 264 (11.11.1938), 1. Bl., S. [1]).

‚Schutzhaft‘ und Konzentrationslager

In ‚Schutzhaft‘ genommen wurden in Aue Dr. E. Eisenberg und Dr. Heinrich Mannes. Beide wurden im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Unklar ist bislang, um wen es sich bei dem ‚jüdischen Reisenden‘ handelt. Denkbar ist auch, dass es sich dabei um eine Person handelte, die bei dem Versuch verhaftet wurde, der Pogromgewalt zu entfliehen.

Dass ‚erregte Menschenmengen‘ durch die Stadt zogen und ‚Kampflieder‘ sangen deutet auch für Aue darauf hin, dass die antisemitische Gewalt hier keineswegs spontan war und aus der Mitte der Bevölkerung entsprang, sondern bestens organisiert vonstatten ging.