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Übergriffe vor dem Pogrom: Annaberg 1935

Die Gewalt gegen als Juden verfolgte Menschen in Sachsen brach sich nicht erst mit den Novemberpogromen von 1938 Bahn. Zunächst kam es insbesondere nach der ‚Machtübernahme‘ durch die Nationalsozialisten zu Übergriffen gegen die Verfolgten – etwa im Rahmen des ‚Boykotts‘ ‚jüdischer‘ Geschäfte Anfang April 1933 oder Verdrängung aus dem Kultur- und Staatsapparat (dazu u. a.: Heer, Hannes; Kesting, Jürgen; Schmidt, Peter: verstummte stimmen. Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den Dresdner Theatern 1933 bis 1945, Berlin 2011).

Zahlreiche antisemitische Maßnahmen erfolgten parallel dazu und auch in der Folgezeit auf dem Verordnungs- oder Gesetzgebungsweg. Viele nahmen die Jahre 1934 bis 1937/38 deshalb auch als eine Phase der scheinbaren Ruhe wahr, die allerdings oft trügerisch war.

Präsenz der Angst

Immer wieder kam es zu einzelnen antisemitischen Übergriffen gegen Geschäfte und das Eigentum von Verfolgten, die die Gefahr der Verfolgung und körperlichen Gewalt offenbarten (vgl. auch der Fall des Mittweidaer Kaufmanns Herbert Bach 1937). Ein Zeitungsbericht der Polizeidirektion Annaberg, abgedruckt im ‚Eibenstocker Tageblatt‘, hielt am 17. August 1935 eine solche antisemitische Aktion fest.

In dem Bericht hieß es: „In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag sind die Schaufenster jüdischer Geschäfte in hiesiger Stadt von zurzeit noch unbekannten Tätern bemalt und beschmiert worden. Weiter sind in letzter Zeit Fenster und Türen jüdischer Einwohner und deutscher Bürger mit Zetteln verschiedenen Inhalts beklebt worden.“

Das Besondere des Zeitungsartikels war – neben der Tatsache, dass darüber überhaupt berichtete wurde –, dass die Polizeidirektion die Taten verurteilte und Strafverfolgung ankündigte. Begründet wurde dies damit, dass die „Bekämpfung des Judentums […] von Staat und Bewegung mit anderen Mittel geführt“ würde.

Zäsur und Kontinuität

Die Pogrome vom November 1938 schließlich verdichteten die antisemitischen Übergriffe in kollektiver Form. Sie waren mithin natürlich eine Zäsur, standen jedoch gerade auch mit Blick auf die Verschärfung der Verfolgung in den Vormonaten – wie beim ‚Anschluss‘ Österreichs oder während der ‚Sudetenkrise‘ – als auch die gewählten Mittel in einer Kontinuitätslinie.

Plünderungen in Dokumenten des nationalsozialistischen Regimes

Nach den offiziellen Zeitungsartikel verliefen die Pogrome in Sachsen, jener immer wieder propagierte angebliche ‚spontane Volkszorn‘, diszipliniert und bei allen Zerstörungen ohne Plünderungen ab. Polizeiliche Anweisungen hatten ausdrückliche eine scharfe Verfolgung von Plünderern gefordert.

Eine Anordnung des Stellvertreters des Führers

Dass Plünderungen und Diebstahl durch Pogromtäter und Nutznießer gleichwohl vorkamen, zeigen einerseits die Berichte der als Juden verfolgten Menschen. Andererseits musste sich auch die NSDAP-Parteiführung eingestehen, dass das selbst propagierte Bild keineswegs der Realität gerecht wurde: In einer Anordnung des Stellvertreters des Führers Rudolf Heß vom 29. November 1938 hieß es so etwa:

„Bei den aus der Bevölkerung heraus entstandenen Aktionen gegen die Juden mußten hier und dort von Dienststellen der Partei und ihrer Gliederungen zum Schutze deutschen Volksvermögens Wertgegenstände sichergestellt werden. Ich ordne an, daß solche Gegenstände gegen Quittung unverzüglich an die nächste Dienststelle der Geheimen Staatspolizei abgegeben werden.

Sollten Dienststellen der Partei und ihrer Gliedrungen in Zusammenhang mit dieser Aktion Diebstähle, die leider vorgekommen sein dürften, bekannt geworden sein, so ist unverzüglich der nächsten Polizeidienststelle Meldung zu machen. Ebenso ist bei Auftauchen verdächtiger Gegenstände zu verfahren“ (abgedruckt in: Pätzold, Kurt (Hg.): Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, 4. Aufl., Leipzig 1991, S. 193).

Ein Funkspruch nach Hartha bei Döbeln

Mit den Pogromen vom November 1938 erging flächendeckend die polizeiliche Anordnung zur Verhaftung von als Juden verfolgten Männern. Vermittelt wurden die entsprechenden Anweisungen auch durch staatliche Verwaltungsstellen wie die Amtshauptmannschaften. Zu prüfen wäre, inwiefern in Sachsen die Anweisungen gezielt nur an Orte weitergegeben wurden, in denen als Juden verfolgte Menschen statistisch erfasst waren, oder ob unterschiedslos alle Gemeinden die entsprechenden Anordnungen erhielten.

Ein Funkspruch nach Hartha

Einer der in dieser Sache erfassten Funksprüche erreichte am 11. November 1938 die Verwaltung im kleinen Städtchen Hartha bei Döbeln. Die übergeordnete Amtshauptmannschaft Döbeln wies an, männliche Juden deutscher Staatsangehörigkeit bis 55 Jahre festzunehmen.

Tatsächlich hatte in der Stadt auch mindestens eine Familie gelebt, deren Mitglieder sich als Juden verfolgt sahen: Die Urbachs hatten die Stadt aber zum Zeitpunkt der Pogrome wohl bereits nach Leipzig verlassen. Trotz Flucht nach Frankreich endete ihr Leben in der Schoa. In Hartha erinnern heute Stolpersteine an ihr Schicksal.

Eine Broschüre des Treibhaus e. V. Döbeln unter dem Titel „Niemand kam zurück – Jüdisches Leben im Altkreis Döbeln bis 1945“ nimmt sich des Schicksals der Verfolgten an, ist aber zurzeit leider vergriffen.

Zu den Forschungen von Treibhaus e. V. siehe auch Schilling, Judith; Conrad, Stephan; Spitzner, Sophie: Spurensuche in Döbeln, in: Medaon 11 (2017), 20, S. 1–3, online unter: http://www.medaon.de/pdf/Medaon_20_Schilling_Conrad_Spitzner.pdf (Stand: 06.08.2018).

Die ‚Lösung der Judenfrage‘ – Ein Referentenentwurf vom Dezember 1938

Ein Referentenentwurf des Reichsinnenministeriums für eine Ansprache die am 16. Dezember 1938 zur Tagung der deutschen Regierungspräsidenten gehalten werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Pogromereignisse gerade einmal einen Monat vergangen und mit mehreren gesetzlichen Verordnungen die Verdrängung und Ausbeutung der als Juden verfolgten Menschen bereits auf einen neuen Höhepunkt getrieben.

‚Reinliche Scheidung‘

Dem Papier zufolge, sei die ‚Judenfrage‘ nach den Pogromen zumindest insofern gelöst worden, als dass es zu einer reinlichen Scheidung von ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ durch gesetzliche Maßnahmen und Strafen gekommen sei.

Gleichwohl vermerkte der Redeentwurf auch, dass eine tatsächliche Trennung „erst dann als erreicht angesehen werden [könne], wenn der letzte Juden die Reichsgrenze überschritten hat. Dieses Ziel wird angestrebt und es kann als Hauptziel aller innenpolitischen Maßnahmen angesehen werden. Es handelt sich jedoch um ein außerordentlich schwieriges Problem“ (Pätzold, Kurt (Hg.): Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, 4. Aufl., Leipzig 1991, S. 200-204, hier S. 201).

Schwer, so der oder die Verfasser des Entwurfs, gestalte sich vor allem die Auswanderung der noch verbleibenden Juden, deren Förderung angestrebt und deshalb den Verfolgten auch zunächst keine weiteren Hindernisse in den Weg gelegt werden sollten.

Tatsächlich hatte die nationalsozialistische Judenpolitik zur Folge, dass vor allem der Anteil älterer und armer als Juden Verfolgter anstieg. Gleichzeitig stiegen die Hürden für die Ausreise, die für die möglichen Exilländer bewältigt werden mussten.

Die Auslösung der Pogrome (5): Nachtrag zur Rolle der Ordnungspolizei unter Kurt Daluege

Bereits an früherer Stelle wurde über ein Fernschreiben des Chefs der deutschen Ordnungspolizei, Kurt Daluege, vom 10. November 1938 berichtet.

Fernschreiben Daluges

Ein weiteres Fernschreiben Dalueges an die untergeordneten Stellen gab darüber hinaus konkrete Anweisungen, wie im Fall des Abbruchs der organisierten Pogromgewalt zu verfahren sei und wie zerstörte Objekte gesichert werden sollten:

„sobald von gauleitungen anweisungen zur beendigung der aktionen vorliegt dafuer sorgen dass zertruemmerte laeden durch holzverkleidungen usw. so verschlossen werden dass zerstoerung moeglichst wenig sichtbar hausbesitzer anweisen gegebenenfalls arbeiten im auftrag der polizei ausfuehren lassen truemmer von synagogen usw. beschleunigt beseitigen lassen“ (abgedruckt in: Pätzold, Kurt (Hg.): Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, 4. Aufl., Leipzig 1991, S. 171).

Synagogen in Europa – und in Sachsen: Eine Bestandsübersicht

Im November 1938 wurden im Großdeutschen Reich während der Pogrome über 1.400 Synagogen und Betstuben demoliert, zerstört oder niedergebrannt. Die Foundation of Jewish Heritage und das Center for Jewish Art der Hebrew University bemühen sich, Synagogen in ganz Europa in einer Datenbank zu erfassen.

Eine interaktive Karte

Das Projekt stellt nunmehr eine interaktive Karte mit den historischen Synagogen in Europa zur Verfügung, in die inzwischen 3.320 Synagogen in ganz Europa verzeichnet sind. 858 liegen auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Dabei enthalten die Einträge sowohl zu Gebäuden Informationen, die noch heute als Synagogen genutzt werden, als auch solchen, die ehemals als Gotteshaus oder Betsaal dienten.

Synagogen in Sachsen

Unter den deutschen Synagogen sind auch die drei heute in Sachsen noch für Gottesdienste genutzten Gebäude in Dresden, Chemnitz und Leipzig (Keilstraße) aufgeführt. Außerdem sind die ehemaligen Betsäle in Falkenstein, Zwickau und Bautzen verzeichnet, die heute anderweit genutzt werden. Auch die Görlitzer Synagoge ist verzeichnet, die als einzige freistehende große Synagoge die Pogrome auf dem Gebiet des heutigen Sachsen überstand.

Zur Karte: http://historicsynagogueseurope.org/synagogue-map

Pogrom im Roman (3): Erich Loest

Zu den Romanen, die die sächsischen Pogromereignisse des Jahres 1938 thematisieren, zählt auch Erich Loests Buch ‚Völkerschlachtdenkmal‘, der 1984 erschien – drei Jahre nach Loest Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik.

Geschichte eines Sprengmeisters

Der Protagonist des Romans, der ehemalige Sprengmeister CARL FRIEDRICH Fürchtegott Vojciech Felix Alfred LINDEN wird mit siebzig Jahren in Anstalt Dösen eingewiesen, weil er das Leipziger Völkerschlachtdenkmal zu sprengen beabsichtigte. Bei den Vernehmungen berichtet er auch über die Geschichte seines Vaters Felix Linden, der als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient habe, dann allerdings verstört zurückgekehrt sei (hier und im Folgenden: Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal. Roman, 3. Aufl., München 1991, S. 100). Ab Sommer 1932 sei der Vater dann SA-Mann gewesen. Während einer SA-Spendensammlung habe er auf der Straße den ehemaligen Leutnant und Pelzhändler Katzenstein wiedergesehen, den er bereits in den Jahren zuvor zu verschiedenen Anlässen getroffen hatte (S. 110 f.).

Der Pogrom in Leipzig im Roman

Auch den 9. November 1938 erlebt Felix Linden als SA-Mann. Loest schrieb dazu:

„Eines Abends wurde Felix Linden alarmiert. Ein SA-Mann rannte zum anderen, der zum dritten, ausgeklügelt war, was zu geschehen hatte, wenn einer nicht anzutreffen war. Abends um neun am Johannapark, hieß es, in der Tauchnitzstraße, Zivil, unauffällig! Nicht darüber reden, Geheimeinsatz! ‚Was wird sinn?‘ fragte Klärchen; er zuckte die Schultern.

Als Felix Linden die Tauchnitzstraße entlang ging, sah er den einen oder anderen aus seinem Sturm, sie trugen Mäntel, Mützen und Hüte, es war eine Zeit, in der auch Arbeiter Hüte trugen. Manche hatten im Radio gehört, ein Jude hätte in Paris einen deutschen Botschaftsangehörigen erschossen – Rache! schäumten sie, das sollen uns die Juden büßen! Wenn das Judenblut vom Messer spritzt! Dieser SA-Sturm sollte das angeblich spontane Umfeld bilden, er füllte eine Seitenstraße, aus der Gruppe der ‚Deutschen Eichen‘ [d. i. eine Gruppe SA-Männer] heraus erschollen Rufe, Beifallsklatschen auch, als Flammen hinter den Glasscheiben glühten. Von seinen Führern hörte er, das sei erst der Anfang dieser Nacht, gleich würden sie zum Brühl weiterziehen, heute flögen die Fetzen. Da machte er sich aus seiner lockeren Formation heraus und drängte nach vorn, dort war Gelegenheit, durch einen Hauseingang und über einen Hof zu verschwinden. Glutrot fiel der Schein der lodernden Synagoge auf eine Mauer, dahinter war ein Garten, Felix Linden brach mit der Wucht seiner Pranken und dem Gewicht seines Körpers ein Zaunfeld nieder, keuchte durch den Park, über eine Elsterbrücke, rammte sich den Weg durch Menschen, die ins Zentrum eilten, und kam vor die Villa des Pelzhändlers Katzenstein, ehe der Plan der NS-Kreisleitung dort das Aufflammen des Volkszorns vorgesehen hatte. Er nahm den Daumen nicht von der Klingel, ehe nicht Licht hinter den Fenstern wurde, ehe nicht ein Kopf zwischen Gardinen zu sehen war, der Kopf einer Frau mit ungekämmtem Haar. Als er schließlich meinte, über sich das Gesicht Katzensteins zu sehen, rief er: ‚Ich komm vom Deutschen Patrioten-Bund!‘

Das war schlichtweg idiotisch, der Patrioten-Bund war längst entschlafen, aber dieser Begriff war ein Ruf aus alter Zeit, da drang etwas aus verschütteten Gründen heraus, Gemeinsamkeit wurde beschworen, ein Stück unversehrter Welt. Das Wort ‚deutsch‘ gar zum Juden Katzenstein, es war absurd.

‚Sie müssen sofort weg‘, sagte Vater, als Katzenstein die Tür geöffnet hatte. Felix Linden erinnerte weder an die Gipfelweihe des Denkmals noch an das Treffen mit dem Erstürmer des Douaumont. ‚Gleich werden sie kommen.‘ Er sagte: Sie werden kommen, ohne zu erläutern, wer gemeint war, deutlichere Worte standen ihm nicht zur Verfügung, er konnte nicht warnen: Die Faschisten kommen, die Mordbrenner. ‚Durch den Garten, sofort weg!‘ Felix Linden ging auf die Straße zurück und auf die andere Seite hinüber, von dort sah er, wie im Haus im schnellen Wechsel Lampen aufflammten und erloschen. Der Proletarier hatten den Großbürger gewarnt, der SA-Mann den Fremdvölkischen, die ‚Deutsche Eiche‘ den sogenannten Ostjuden. Zur Innenstadt kehrte mein Vater zurück, knirschend über Glas, wich Lastwagen aus, querte den Markt und den Augustusplatz. Eine Bahn fuhr nach Stötteritz, er stellte sich auf den hinteren Perron, er hätte die Hände vorstrecken und bitten mögen: Sie stinken nicht nach Benzin, hab keine Asche am Mantel, Arbeiter bin ich, von Schicht komm ich und fahr friedfertig nach Hause!

Die nächsten Male mied er den SA-Dienst, später meldete er sich krank. Mein Vater ein Nazi? Ich will ihn nicht besser machen, als er war“ (S. 115-117).

Felix Lindens Romanschicksal endet nach einem Luftangriff auf Leipzig: Als Brandbekämpfer erstickt er in einem brennenden Haus (144 f.).

Loest setzte sich in seinem Roman auch mit seiner eigenen Vergangenheit als HJ- und NSDAP-Mitglied wie Wehrmachtssoldat auseinander.

Verfolgte schreiben in der Emigration über die Pogrome: Nachtrag

Bereits an früherer Stelle habe ich auf ein Preisausschreiben von Wissenschaftlern der Havard University von 1939 geschrieben, die Erlebnisberichte über das Leben in Deutschland nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten sammelten. Eine Auswahl der mehr als 250 eingegangenen Manuskripte, die in der Mehrzahl von als Juden verfolgten Menschen stammten, wurde 2009 in deutscher Sprache veröffentlicht (Gerhardt, Uta; Karlauf, Thomas (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009).

Berichte aus der Emigration

Von den Berichten stammten 155 von Personen aus den USA, 31 aus Großbritannien, 20 aus Palästina und sechs aus Shanghai. Deutlich dominierten Texte, die über Erfahrungen aus Berlin (61 Stück) und Wien berichteten (39 Stück). Übereinstimmend heben sie die Bedeutung der Novemberpogrome als Zivilisationsbruch hervor. Sie erlauben nicht nur, die Erfahrungen der Verfolgten während der Pogrome und der oftmals nachfolgenden Konzentrationslageraufenthalte zu untersuchen, sondern geben im Kleinen auch Auskunft zum Verhalten der nichtjüdischen Umwelt.

‚Die Juden!‘

Exemplarisch stehen hierfür die Erinnerungen von Harry Kaufmann, dem Ende 1938 die Emigration aus dem Deutschen Reich gelang (im oben genannten Band S. 323-318). Kaufman schrieb über einen Kinobesuch im Jahr 1937: Unter anderem sei ein Reklamefilm einer Versicherungsgesellschaft gelaufen, bei dem nach einem dargestellten Unfall gefragt worden sei, wer Schuld daran habe. Ein Kinozuschauer habe daraufhin gerufen: ‚Die Juden!‘ und das ganze Publikum habe gelacht.

Einerseits, so jedenfalls auch die Deutung von Thomas Karlauf könne man daraus schließen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung wenig mit der antisemitischen Hetze habe anfangen können, sich vielmehr darüber lustig machte. Allerdings, das scheint mir als Ergänzung notwendig, zeugen der Zwischenruf als auch die Reaktion des Publikums davon, wie weit die antisemitische Propaganda in der Bevölkerung bereits verbreitet war.

„Natürlich stirbt er“ – Mutmaßungen unter den Verfolgten

Zu den Menschen, die dem nationalsozialistischen Regime etwas entgegen zu setzen suchten, gehörte Ruth Andreas-Friedrich (1901-1977) in Berlin. Zu ihren Bekannten zählte auch der ehemalige Schriftleiter des Ullstein-Verlags Heinrich Mühsam (1900-1944).

Ein orchestriertes Attentat?

In ihrem Tagebuch notierte Andreas-Friedrich am 8. November 1938 das Attentat Grynszpans an vom Rath in Paris und verschiedene Munkeleien über eine ‚Rache der Juden‘ wie einen möglichen homosexuellen Hintergrund der Tat.

Einen Tag später hielt sie ein Gespräch mit Heinrich Mühsam fest, das deutlich macht, dass die als Juden verfolgten Menschen dem nationalsozialistischen Regime zutrauten, das Attentat lediglich inszeniert zu haben. Auf diese Weise, so die Annahme, sollte ein nationalsozialistischer Märtyrer geschaffen werden, der den Anlass für weitere antisemitische Aktionen geboten hätte.

Andreas-Friedrich schrieb: „‚Wird er sterben?‘ frage ich ihn [d. i. Mühsam]. ‚Und wenn er stirbt, was dann?‘ – ‚Natürlich stirbt er. Sonst hätte das Ganze ja keinen Wert. Um ihn zu rächen, muß man erst um ihn weinen. Je größer die Trauer, desto fanatischer der Haß. […] Kein Zweifel: der jüdische Krieg steht vor der Tür. Ich für meinen Teil gedenke Pazifist zu bleiben. Mehr als sterben kann auch ein Jude nicht.‘“ (zit. in: Andreas-Friedrich, Ruth: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Berlin 1947, S. 28).

Der Pogrom bricht los

Nur einen Tag darauf (10.11.1938) findet sich im Tagebuch der Hinweis, dass sich die Pogromgewalt nunmehr Bahn gebrochen habe und die Juden wie Hasen gejagt würden. In Folgeeintragungen sind Verhaftungen und Versuche der Verfolgten, sich zu verstecken, thematisiert.

Ruth Andreas-Friedrichs Entschluss, ihr Tagebuch (‚Der Schattenmann‘) später zu veröffentlichen sei ihr angesichts der Pogromereignisse gekommen.

Die Entlassung aus Buchenwald – Bericht von Karl E. Schwabe aus Hanau

Die ab dem 10. November 1938 in die Konzentrationslager verschleppten, als Juden verfolgten Männer wurden bis Ende 1938 größtenteils wieder freigelassen. Ihre späteren Berichte sind von den Erfahrungen der Lagerhaft dominiert. Immer wieder finden sich aber auch Hinweise darauf, wie die Entlassungen erfolgten.

Ein Monat in Buchenwald

Exemplarisch steht dafür ein Bericht des 1891 geborenen Kaufmanns Karl E. Schwabe dar, der aus Hanau stammte. Schwabe wurde am 10. November 1938 festgenommen und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nach seiner Entlassung am 10. Dezember 1938 gelang ihm im April 1939 die Emigration. Im Rahmen des 1939 ausgelobten Preisausschreibens von Wissenschaftlern der Havard University um Edward Y. Hartshorne, schrieb Schwabe seine Erlebnisse nieder (auszugsweise abgedruckt: Schwabe, Karl E.: Manuskript 202 (207), in: Gerhardt, Uta; Karlauf, Thomas (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009, S. 137–156).

Interessant ist Schwabes Bericht vor allem auch deshalb, weil er sehr detailliert die Entlassung aus dem Konzentrationslager schildert, die sich mit vielen anderen Erlebnisberichten decken – auch von aus Sachsen in das Lager verschleppten Verfolgten.

Schweigeerklärung und ‚Friseurbesuch‘

Nachdem er zur Freilassung aufgerufen worden sei, habe man ihn – so Schwabe – zunächst ärztlich untersucht. Im Falle von sichtbaren Misshandlungsspuren hätte eine Freilassung nicht stattgefunden. Er habe dann verschiedene Papiere auf der Schreibstube unterzeichnen müssen, darunter auch eine Schweigeerklärung und ein Dokument, in dem er bescheinigte, gut behandelt worden zu sein. Anschließend seien beim ‚Frisör‘ nochmals Haare und Bart geschoren wurden. Im ‚Postbüro‘, so Schwabe weiter, habe er dann von den 60 Reichsmark, die seine Frau ihm übersendet habe, 17 Reichsmark ausgezahlt erhalten. Der Rest sei einbehalten wurden, um angeblich mittellosen Gefangenen zuzukommen.

In der Kommandantur hätten die zur Freilassung Bestimmten dann mit Bürsten versucht, ihre zerschlissene Kleidung notdürftig zu reinigen. Vor der Abfahrt mit Bussen nach Weimar habe es dann noch eine Ansprache gegeben (vgl. ebd. S. 148 f.).

Jüdische Unterstützung der Entlassenen

Auf dem Bahnhof in Weimar habe man den Entlassenen dann nicht nur Fahrkarten für die Heimreise besorgt, sondern – und diesem Aspekt lohnt es sich, noch einmal genauer nachzugehen – sie hätten von jüdischen Frauen auch Kaffee und weiße Brötchen erhalten. Anschließend konnten sie mit Zügen endlich in Richtung ihrer Heimatorte fahren können – freilich mit der Auflage, sich dort polizeilich zu melden (vgl. ebd., S. 149).

Schwabes Bericht steht exemplarisch für die Erlebnisse vieler, auch der aus Sachsen in Buchenwald festgehaltenen Verfolgten, die mit geschorenem Kopf auch in den Folgewochen in ihren jeweiligen Heimatorten ein Zeichen der Stigmatisierung behielten. Schwabe starb 1967 in den USA.