Category: Bruchstücke 1938|2018

Pogrom und Gegenwart (1)

In den letzten Monaten sind im Kontext fremdenfeindlicher Übergriffe immer wieder Begriffe wie ‚Pogrom‘ oder ‚Pogromstimmung‘ verwendet worden.

Der Leipziger Polizeipräsident 2016

Anfang Februar 2016 sprach der Leipziger Polizeipräsident und Leiter des damaligen Operativen Abwehrzentrums, Bernd Merbitz, angesichts zahlreicher fremdenfeindlicher Übergriffe in einem Interview davon, dass in ganz Sachsen „eine Pogromstimmung [herrscht], die eine kreuzgefährliche Intensität bekommt“ (Roth, Matthias; Lieb, Thomas: Anschläge auf Asylunterkünfte – Merbitz: „ Es herrscht Pogromstimmung“, in: Leipziger Volkszeitung (02.02.2016), online unter: http://www.lvz.de/Leipzig/Polizeiticker/Polizeiticker-Leipzig/Anschlaege-auf-Asylunterkuenfte-Merbitz-Es-herrscht-Pogromstimmung (Stand: 25.05.2018) ). Ob bewusst oder unbewusst stellte er mit seiner Begriffswahl die menschenfeindlichen Tendenzen der Gegenwart auch in Bezug zu den antisemitischen Novemberpogromen von 1938.

Auch im Kontext der aktuellen Debatte um die Ereignisse in Chemnitz wird immer wieder der Begriff ‚Pogromstimmung‘ verwendet – und über diese Wortverwendung auch gestritten.

Die Pogrome von 1938 und wir heute

Inzwischen sind 80 Jahre seit den Pogromen vergangen. Nur noch eine kleine Zahl an Zeitzeugen kann überhaupt von den Ereignissen berichten. Zudem setzt die Geschichte des Nationalsozialismus bei der dritten oder vierten Folgegeneration kaum noch direkte menschliche und emotionale Bezüge. Das heißt nicht, dass die Jahre zwischen 1933 und 1945 nicht mehr präsent sind, im Gegenteil. Die Frage aber, welche Bezüge diese Zeit für die Menschen damals wie heute hatte und hat, wird zu selten konkret gestellt oder verhallt.

Das gilt auch für die Novemberpogrome: Statt die Verwendung oder Nichtverwendung des Wortes Pogrom für die heutigen Ereignisse zu debattieren, sollte man sich vor Augen führen, dass damals, 1938, als Juden Verfolgte, die Pogromtäter und Mittäter, die Zuschauer, die Helfer der Verfolgten allesamt Menschen waren, deren jeweils unterschiedliche Vorstellungen, Werte und Vorurteile in der Gewalt der Pogrome wie im menschlichen Handeln zutage traten.

Es ist vermutlich gerade dieses Menschsein, das wir uns auch in der heutigen Zeit immer wieder vor Augen führen sollten, wo es um Grundwerte und -ideen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens geht. Die Pogrome von 1938, vor allem aber die Geschichten all der daran beteiligten Menschen, können dafür Bezugspunkte für die Reflektion bieten.

Zerstörte Synagogen in Sachsen: Ein Arbeitsbericht

In Sachsen gab es bis zu ihrer Auflösung in der Zeit des Nationalsozialismus acht jüdische Gemeinden in Annaberg, Bautzen, Chemnitz, Dresden, Leipzig, Plauen, Zittau und Zwickau. Während die größeren Gemeinden in der Regel über repräsentative Synagogenbauten verfügten, bestanden in den kleineren Gemeinden zumindest Betstuben, in denen die Gottesdienste stattfanden.

Zerstörte und demolierte Synagogen in Sachsen

Am 9./10. November 1938 waren die jüdischen Gotteshäuser Ziel von Angriffen und Zerstörung. Auf dem Gebiet des heutigen Sachsen überstand von den großen freistehenden Synagogen nur die in Görlitz, das damals zu Preußen gehörte, die Pogromtage.

Soweit bislang bekannt waren betroffen:

Annaberg
Betsaal, Buchholzer Straße 17 (Hinterhaus; Weihe: 1925; 1938 nicht mehr genutzt); wohl verwüstet

Bautzen
Gemeindebetstube, Töpferstraße 35; demoliert

Chemnitz
Gemeindesynagoge, Stephansplatz 3 (Weihe: 1899); niedergebrannt, abgerissen

Dresden
Gemeindesynagoge, Zeughausstraße 1b (Weihe: 1840); niedergebrannt, abgerissen

Görlitz
Gemeindesynagoge, Otto-Müller-Straße 3 (Weihe: 1911); Brandlegung, gelöscht

Leipzig
Ez-Chaim-Synagoge, Apels Garten 4 (Weihe: 1922); niedergebrannt, abgerissen
Krakauer Synagoge, Berliner Straße 10 (gegr. 1902); geplündert
Kolema-Synagoge, Berliner Straße 4 (gegr. 1904); demoliert
Tiktiner Betsaal, Brühl 71 (gegr. 1850); demoliert
Bernstein-Schul, Bussestraße 5a (gegr. ca. 1919); demoliert
Tifereth-Jehuda-Synagoge, Eberhardstraße 11; wohl demoliert
Bethaus Bikur Cholim, Eisenbahnstraße 6 (Hinterhaus; gegr. 1905); demoliert
Beth-Jehuda-Synagoge (auch Ariowitsch-Synagoge), Färberstraße 11a (Hinterhaus; gegr. 1921); demoliert
Ahawath Thora-Synagoge, Färberstraße 4–6 (gegr. 1907); demoliert
Gemeindesynagoge, Gottschedstraße 3 (Weihe: 1855); niedergebrannt, abgerissen
Brodyer Synagoge (auch: Talmud-Thora-Synagoge), Keilstraße 4 (Weihe: 1904); gelegter Brand gelöscht, demoliert

Plauen
Gemeindesynagoge, Engelstraße 15/ Senefelder Straße 24 (Weihe: 1930); niedergebrannt und abgerissen

Zittau
Gemeindesynagoge, Lessingstraße 12 (Weihe: 1906); niedergebrannt, gesprengt, abgerissen

Zwickau
Betsaal Adass Jisroel, Burgstraße 10 (Hinterhaus; Weihe: 1920); ausgebrannt, später Teilabriss

Zumindest in Leipzig blieben einige wenige Betstuben von den Übergriffen verschont.

Berichte der Exil-SPD über die Pogromgewalt und ihre Folgen (3)

Auch die Berichte über die Gewaltexzesse gelangten bis zu den Redakteuren der Deutschland-Berichte der Exil-SPD (o. A.: Die Judenverfolgungen, in: Deutschland-Berichte [der Sozialdemokratischen Partei] 6 (1939), 7, S. 898–940).

Mord in Chemnitz, Demütigungen in Leipzig, ‚Umzug‘ in Bautzen

Dazu heißt es unter anderem: „In Chemnitz wurde ein Mann in seinem eigenen Haus erschossen, und der Rabbiner wurde geschlagen und ernsthaft verwundet, als er versuchte, die heiligen Bücher aus der brennenden Synagoge zu retten. […] In Leipzig hat man eine Gruppe verhafteter Männer zu einem Kanal geführt und sie mit Erschießen bedroht, wenn sie nicht ins Wasser sprängen. Aber die Schreie der Frauen aus den benachbarten Häusern beendeten dieses ‚Spiel‘. In Bautzen, wo nur noch etwa ein Dutzend jüdischer Familien leben, wurden alle Frauen und Männer gezwungen, den ganzen Tag über auf offener Straße vor einem ihrer Häuser zu stehen. Sie trugen Schilder um den Hals und wurden durch judenfeindliche Lieder und Rufe verhöhnt“ (S. 922).

Selbsttötungen

Ein interessantes Feld scheint es, den in den Sopade-Berichten erwähnten, allerdings anonymisierten Selbsttötungen nachzugehen. Genannt werden etwa der Suizid der Ehefrau und Tochter eine Verfolgten in Chemnitz, die sich mutmaßlich einen Tag nach der Verhaftung des Mannes mit Gas töteten (S. 923). „In Plauen hat sich ein Mann an dem Tage erhängt, an dem ich [der Berichterstatter – Anm. DR] diesen Ort besuchte. Er war am Tage zuvor aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt. Die Schwierigkeit der Situation wird durch die Tatsache illustriert, daß die nötigen Papiere für die Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof nicht zu erhalten waren, weil alle Rabbiner und Gemeindebeamten den Ort verlassen hatten“ (S. 923).

Die Rückkehr aus den Lagern

Auch über den Zustand der aus den Lagern entlassenen Männer war die Sopade-Redaktion informiert. Diese kämen verwundet,, mit zerrissener Kleidung zurück. In Chemnitz hätten mindestens vier Frauen die Anfrage erhalten: „Wo wünschen Sie die Asche Ihres Mannes ausgeliefert zu erhalten?“ (S. 924) – die Männer waren also im Konzentrationslager umgekommen. Tatsächlich sind die Namen von drei Verfolgten aus Chemnitz und einem aus Aue bekannt, die im Konzentrationslager Buchenwald starben.

Berichte der Exil-SPD über die Pogromgewalt und ihre Folgen (2)

Die Deutschland-Berichte der Exil-SPD geben zahlreiche weitere Informationen zu den Ereignissen der Pogrome in Sachsen.

Versteckt in christlichen Häusern

Der Bericht von 1939 (o. A.: Die Judenverfolgungen, in: Deutschland-Berichte [der Sozialdemokratischen Partei] 6 (1939), 7, S. 898–940) erwähnt auch, dass einige Männer durch Flucht oder Abwesenheit ihrer Verhaftung entgangen seien. Manche hätten sich auch in christlichen Häusern versteckt (S. 922). In der Tat gibt es zahlreiche Berichte – besonders für Leipzig – in denen Verfolgte über die Warnungen und Unterstützung, die sie erhielten, Zeugnis geben.

In Geiselhaft

Gleichwohl benannte der Sopade-Bericht auch die Maßnahmen der Gestapo, um flüchtiger Verfolgter habhaft zu werden: So seien in Dresden mehrere Frauen als Geiseln gehalten worden, bis sich ihre Männer gestellt hätten (S. 922). Zwar ließen sich bislang noch keine konkreten Namen identifizieren. Dass die Gestapo Personen in ‚Schutzhaft‘ nahm, um ihrer Verwandten habhaft zu werden, ist indes anhand einiger Beispiele belegt. So wurden die Ehefrau und eine kranke Tochter des Syndikus des Central-Vereins in Leipzig, Kurt Sabatzky, am Morgen des 10. November in ‚Schutzhaft‘ genommen. Die Tochter wurde dann bald einer Tante übergeben. Erst als Kurt Sabatzky in Dresden festgenommen war, ließ man dessen Ehefrau wieder gehen.

Berichte der Exil-SPD über die Pogromgewalt und ihre Folgen (1)

Hinweise zu den Pogromereignissen im Deutschen Reich geben auch Berichte der Exil-SPD von 1939 (sog. Sopade-Berichte; o. A.: Die Judenverfolgungen, in: Deutschland-Berichte [der Sozialdemokratischen Partei] 6 (1939), 7, S. 898–940). Als Quelle sind diese auch als eine Art Stimmungsberichte und damit vor ihrer politischen Funktion zu lesen: Den Widerstand im Deutschen Reich gegen den Nationalsozialismus zu stärken – unter anderem durch die Erwähnung konkreter Beispiele von Protest während der Pogrome. In der Regel sind die abgedruckten Berichte anonymisiert, um Personen im Deutschen Reich nicht zu gefährden.

Berichte von Diplomaten

Dass die Redaktion der Sopade-Berichte offensichtlich gut vernetzt war, zeigen Übersetzungen von Berichten ausländischer Diplomaten. Interessant sind insbesondere auch einige Bemerkungen, denen in der aktuellen Forschung noch nachgegangen werden kann, um ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. So sei die Friedhofskapelle in Leipzig mit zwei oder drei Toten darin abgebrannt worden und hätten die Täter zwar meist Parteiuniformen und -abzeichen abgelegt, allerdings fast immer Dienststiefel getragen (S. 921).

Selbst die Ärzte des Israelitischen Krankenhauses seien verhaftet worden. Letzteres entsprach den Tatsachen: So wurde der Arzt Ludwig Frankenthal vom Operationstisch weg verhaftet. Gleichwohl war das Krankenhaus, das aufgrund der Weigerung der zur Zerstörung aufgeforderten Mitarbeiter der Leipziger Stadtreinigung unbeschadet blieb, ein Zufluchtsort für die in Leipzig verfolgten Menschen.

Gedenkjahr 2018 (3): Stolpersteine in Chemnitz

Zu den Gedenkorten, die auch an die Verfolgten der Novemberpogrome von 1938 erinnern, gehören die Stolpersteine.

Stolperstein für Hugo Fuchs

Am 30. August 2018 wurden in Chemnitz insgesamt 19 neue Stolpersteine verlegt, die unter anderem an den Kaufmann Julius Nußberg und die Schwestern Sabina, Johanna und Julie Nathan erinnern. Einer der neuen Steine ist dem ehemaligen Gemeinderabbiner Hugo Fuchs gewidmet. Er war am Abend des 9. November 1938 festgenommen und schwer misshandelt worden. Vermutlich nur durch die Unterstützung eines Arztes entging Fuchs dem Konzentrationslager Buchenwald. Traumatisiert gelang Fuchs 1939 die Emigration.

Im Film ab etwa Minute 6:00:

Mehr dazu unter: https://www.chemnitz.de/chemnitz/de/unsere-stadt/geschichte/stolpersteine/verlegung_20180830.html

Ein Rückblick auf das Jahr 1938/39 in Leipzig

Bis heute finden sich in Zeitungen am Ende eines Jahres oder zu Beginn des neuen Rückblicke auf die vergangenen Monate. Auch auf das Jahr 1938 blickten die Kommentatoren zurück. Im Dresdner ‚Freiheitskampf‘ war es der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann persönlich, der resümierte und auch auf die in seinen Augen gelöste ‚Judenfrage‘ einging.

Ein Rückblick für Leipzig

In Leipzig nahm Erich Schwabl im ‚Leipziger Jahrbuch‘ von 1940 eine Rückschau auf die Jahre 1938/39 vor (S. 205-232). Er sparte die Pogromereignisse dabei nicht aus, deutete sie aber ganz im Sinne der antisemitischen nationalsozialistischen Propaganda:

„Der 9. November wurde als Gedenktag an die Gefallenen der Bewegung, wie überall im Reich, so auch in der Reichsmessestadt in zahlreichen Veranstaltungen der Ortsgruppen der NSDAP. würdig begangen. Die Alte Garde wohnte am Abend dieses Tages traditionsgemäß auf Einladung des Oberbürgermeisters der Aufführung von Richard Wagners Oper ‚Der fliegende Holländer‘ bei. In den späten Abendstunden traf die Nachricht ein, daß in Paris der Gesandtschaftsrat vom Rath an den Folgen der Schüsse, die ein hergelaufener Jude am 7. November auf den völlig Ahnungslosen abgegeben hatte, gestorben war. Ungeheure Erregung und Empörung über diese feige Mordtat bemächtigte sich weiter Kreise unserer Stadt. Der Polizeipräsident ordnete die sofortige Schließung aller jüdischen Geschäfte an, was mit großer Befriedigung von der Bevölkerung aufgenommen wurde. Inzwischen ist durch Maßnahmen der Reichsregierung dafür gesorgt, daß das Wirtschaftsleben der Reichsmessestadt ein für allemal von der Judenplage erlöst ist“ (S. 216/218).

Auch Schwabl sah die ‚Judenfrage‘ als gelöst an. Auf die Gewalt sowie die Zerstörung von Synagogen und Geschäften in der Messestadt ging er indes nicht ein. Er erweckte vielmehr den Eindruck, als seien lediglich Geschäfte geschlossen worden – eine absolute Verdrehung der historischen Tatsachen.

Zur Biografie Schwabls liegen mir bislang keine weiteren Hinweise vor.

Historiografische Rechtfertigungen (3) Siegfried Moltke in Leipzig

Im Jahr 1939, wenige Monate nach den Pogromereignissen, erschien in Leipzig Siegfried Moltkes (1869-1949/55?) ‚Geschichte der Leipziger Maklerschaft‘ (A. Deichertsche Verlagsbuchhandlung (Dr. Werner Scholl)). Herausgegeben wurde die Studie von der Industrie- und Handelskammer Leipzig, für die Moltke als Bibliothekar arbeitete.

Die Juden als Makler

Moltkes Band erschien als Ergänzung zu seiner 1936 vorgelegten Schrift zur ‚Geschichte der Leipziger Börse‘. In seinem Ton greift das Buch über das Maklerwesen insbesondere im sechsten Kapitel (‚Die Juden‘) die antisemitischen Vorurteile der Zeit auf und rechtfertigt dadurch zugleich die nationalsozialistische Judenverfolgung. Moltke schrieb unter anderem:

„‚Mit den Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder – Oder!‘ Mit diesem Worte schließt Adolf Hitler das siebente Kapitel seines großen Werkes ‚Mein Kampf‘. Ich setze diese ernste Mahnung unseres großen Führers als Motto, als Geleitwort an die Spitze des sechsten Kapitels meines Buches, ich konnte es mit vollem Recht auch auf das Titelblatt setzten. […] [A]uch sehr zahlreiche andre Stellen meines Buches werden nicht nur beweisen, daß die Hebräer, dieser ‚ewige Spaltpilz der Menschheit‘ wie überhaupt, so auch im Leipziger Maklerwesen stets eine üble Rolle gespielt haben, sondern auch, daß die sächsische Regierung, der Rat der Stadt Leipzig, die Handlungsdeputierten, die Kramermeister, die Ratsmakler und die Kammersensale, daß sie alle, man kann, man muß es sagen: daß sie den Fluch erkannt haben, den für unser Volk im allgemeinen und für Leipzig im besonderen, sowie für unseres deutschen Volkes Wirtschafts- und Kulturleben das Eindringen des Judentums gebracht hat“ (S. 94).

Weitere antisemitische Positionen finden sich auf anderen Seiten des Buches, so etwa gegen russische und polnische Juden. Die Taufe, so Moltke, ändere dabei nicht die ‚Rasse‘ und den ‚Rassencharakter‘ der Juden (S. 98).

Der Bericht des Stadtbauinspektors in Annaberg

In Annaberg wurde am 10. November 1938 die Trauerhalle des Israelitischen Friedhofs demoliert und gesprengt. Am 22. November 1938 nahm der Stadtbauinspektor Berger des Annaberger Stadtbauamts eine Bestandsaufnahme vor (abgedruckt des handschriftlichen Originals in: Diamant, Adolf: Juden in Annaberg im Erzgebirge. Zur Geschichte einer untergegangenen Gemeinde, Reprint, Chemnitz 2016, S. 112).

Ein Gutachten

In dem Bericht heißt es:

„Das Grundstück des jüdischen Friedhofs an der Chemnitzer Straße ist einer Besichtigung unterzogen worden. Es wurde festgestellt, daß sich die äußere Erscheinung, von der Chemnitzer Straße aus gesehen, noch im früheren bisherigen Zustand befindet. Jedoch vom neuren [?] Grundstück aus gesehen, sind Fenster und Türen des Friedhofs selbst zertrümmert. Auch liegen einige Grabsteine umgeworfen. Obwohl das derzeitige verschandelte Aussehen der Friedhofshalle vom öffentlichen Verkehrsraume aus nicht zu sehen ist, so ist dieser Zustand bei [?] Eintritt des Winterwetters, der Beginn des Verfalles[.]

Des allgemeinen Aussehen dieser Friedhofshalle konnte schon seither [?] nicht als schön bezeichnet werden. Es dürfte kein öffentliches Interesse an der Wiederherstellung dieses Bauwerkes vorliegen.“

[Original im Stadtarchiv Annaberg]

Die Friedhofshalle wurde schließlich abgerissen, der Friedhof 1939 eingeebnet.

Gewalt (1): Abraham Izbicki in Glauchau

Liest man die zeitgenössischen Zeitungsartikel über die lokalen Pogromereignisse in Sachsen, so finden sich kaum Hinweise auf die gegen die Verfolgten ausgeübte Gewalt. Immer wieder wurden stattdessen Disziplin und Ordnung der angeblich spontan protestierenden Volksgenossen hervorgehoben.

Zwischen den Zeilen

Gleichwohl lassen zwischen den Zeilen immer wieder Hinweise auf Gewalt und körperliche Übergriffe finden: Neben den Zerstörungen von Synagogen, Geschäften und Wohnungen, die in der NS-Presse zu finden waren, gibt es Hinweise auf die Festnahmen und die Angst der Verfolgten – freilich in antisemitischer Deutung.

Gewalt in Glauchau

1998 erinnerte sich ein Meeraner an die Gewalt gegen die Familie Izbicki in Glauchau: „In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 kamen einige Lkw. SA stieg aus und drang ins Haus ein. Sie prügelten Izbicki im Haus und auf der Straße blutig. Einige Hausbewohner machten dabei mit. Einer davon wurde besonders handgreiflich. Er hat dafür nach 1945 anderthalb Jahre gesessen“ [zit. nach Freie Presse vom 27.11.1998). Wie Abraham Izbicki erging es vor allem am 10. November 1938 zahlreichen als Juden verfolgten Männern in Sachsen (vgl. das Beispiel der Familie Rose in Borna).

Ich danke Dr. Günther Bormann, Glauchau, für ausführliche Informationen zu den Pogromereignissen in Glauchau.