Category: Bruchstücke 1938|2018

Pogrom im Roman (3): Erich Loest

Zu den Romanen, die die sächsischen Pogromereignisse des Jahres 1938 thematisieren, zählt auch Erich Loests Buch ‚Völkerschlachtdenkmal‘, der 1984 erschien – drei Jahre nach Loest Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik.

Geschichte eines Sprengmeisters

Der Protagonist des Romans, der ehemalige Sprengmeister CARL FRIEDRICH Fürchtegott Vojciech Felix Alfred LINDEN wird mit siebzig Jahren in Anstalt Dösen eingewiesen, weil er das Leipziger Völkerschlachtdenkmal zu sprengen beabsichtigte. Bei den Vernehmungen berichtet er auch über die Geschichte seines Vaters Felix Linden, der als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient habe, dann allerdings verstört zurückgekehrt sei (hier und im Folgenden: Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal. Roman, 3. Aufl., München 1991, S. 100). Ab Sommer 1932 sei der Vater dann SA-Mann gewesen. Während einer SA-Spendensammlung habe er auf der Straße den ehemaligen Leutnant und Pelzhändler Katzenstein wiedergesehen, den er bereits in den Jahren zuvor zu verschiedenen Anlässen getroffen hatte (S. 110 f.).

Der Pogrom in Leipzig im Roman

Auch den 9. November 1938 erlebt Felix Linden als SA-Mann. Loest schrieb dazu:

„Eines Abends wurde Felix Linden alarmiert. Ein SA-Mann rannte zum anderen, der zum dritten, ausgeklügelt war, was zu geschehen hatte, wenn einer nicht anzutreffen war. Abends um neun am Johannapark, hieß es, in der Tauchnitzstraße, Zivil, unauffällig! Nicht darüber reden, Geheimeinsatz! ‚Was wird sinn?‘ fragte Klärchen; er zuckte die Schultern.

Als Felix Linden die Tauchnitzstraße entlang ging, sah er den einen oder anderen aus seinem Sturm, sie trugen Mäntel, Mützen und Hüte, es war eine Zeit, in der auch Arbeiter Hüte trugen. Manche hatten im Radio gehört, ein Jude hätte in Paris einen deutschen Botschaftsangehörigen erschossen – Rache! schäumten sie, das sollen uns die Juden büßen! Wenn das Judenblut vom Messer spritzt! Dieser SA-Sturm sollte das angeblich spontane Umfeld bilden, er füllte eine Seitenstraße, aus der Gruppe der ‚Deutschen Eichen‘ [d. i. eine Gruppe SA-Männer] heraus erschollen Rufe, Beifallsklatschen auch, als Flammen hinter den Glasscheiben glühten. Von seinen Führern hörte er, das sei erst der Anfang dieser Nacht, gleich würden sie zum Brühl weiterziehen, heute flögen die Fetzen. Da machte er sich aus seiner lockeren Formation heraus und drängte nach vorn, dort war Gelegenheit, durch einen Hauseingang und über einen Hof zu verschwinden. Glutrot fiel der Schein der lodernden Synagoge auf eine Mauer, dahinter war ein Garten, Felix Linden brach mit der Wucht seiner Pranken und dem Gewicht seines Körpers ein Zaunfeld nieder, keuchte durch den Park, über eine Elsterbrücke, rammte sich den Weg durch Menschen, die ins Zentrum eilten, und kam vor die Villa des Pelzhändlers Katzenstein, ehe der Plan der NS-Kreisleitung dort das Aufflammen des Volkszorns vorgesehen hatte. Er nahm den Daumen nicht von der Klingel, ehe nicht Licht hinter den Fenstern wurde, ehe nicht ein Kopf zwischen Gardinen zu sehen war, der Kopf einer Frau mit ungekämmtem Haar. Als er schließlich meinte, über sich das Gesicht Katzensteins zu sehen, rief er: ‚Ich komm vom Deutschen Patrioten-Bund!‘

Das war schlichtweg idiotisch, der Patrioten-Bund war längst entschlafen, aber dieser Begriff war ein Ruf aus alter Zeit, da drang etwas aus verschütteten Gründen heraus, Gemeinsamkeit wurde beschworen, ein Stück unversehrter Welt. Das Wort ‚deutsch‘ gar zum Juden Katzenstein, es war absurd.

‚Sie müssen sofort weg‘, sagte Vater, als Katzenstein die Tür geöffnet hatte. Felix Linden erinnerte weder an die Gipfelweihe des Denkmals noch an das Treffen mit dem Erstürmer des Douaumont. ‚Gleich werden sie kommen.‘ Er sagte: Sie werden kommen, ohne zu erläutern, wer gemeint war, deutlichere Worte standen ihm nicht zur Verfügung, er konnte nicht warnen: Die Faschisten kommen, die Mordbrenner. ‚Durch den Garten, sofort weg!‘ Felix Linden ging auf die Straße zurück und auf die andere Seite hinüber, von dort sah er, wie im Haus im schnellen Wechsel Lampen aufflammten und erloschen. Der Proletarier hatten den Großbürger gewarnt, der SA-Mann den Fremdvölkischen, die ‚Deutsche Eiche‘ den sogenannten Ostjuden. Zur Innenstadt kehrte mein Vater zurück, knirschend über Glas, wich Lastwagen aus, querte den Markt und den Augustusplatz. Eine Bahn fuhr nach Stötteritz, er stellte sich auf den hinteren Perron, er hätte die Hände vorstrecken und bitten mögen: Sie stinken nicht nach Benzin, hab keine Asche am Mantel, Arbeiter bin ich, von Schicht komm ich und fahr friedfertig nach Hause!

Die nächsten Male mied er den SA-Dienst, später meldete er sich krank. Mein Vater ein Nazi? Ich will ihn nicht besser machen, als er war“ (S. 115-117).

Felix Lindens Romanschicksal endet nach einem Luftangriff auf Leipzig: Als Brandbekämpfer erstickt er in einem brennenden Haus (144 f.).

Loest setzte sich in seinem Roman auch mit seiner eigenen Vergangenheit als HJ- und NSDAP-Mitglied wie Wehrmachtssoldat auseinander.

Verfolgte schreiben in der Emigration über die Pogrome: Nachtrag

Bereits an früherer Stelle habe ich auf ein Preisausschreiben von Wissenschaftlern der Havard University von 1939 geschrieben, die Erlebnisberichte über das Leben in Deutschland nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten sammelten. Eine Auswahl der mehr als 250 eingegangenen Manuskripte, die in der Mehrzahl von als Juden verfolgten Menschen stammten, wurde 2009 in deutscher Sprache veröffentlicht (Gerhardt, Uta; Karlauf, Thomas (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009).

Berichte aus der Emigration

Von den Berichten stammten 155 von Personen aus den USA, 31 aus Großbritannien, 20 aus Palästina und sechs aus Shanghai. Deutlich dominierten Texte, die über Erfahrungen aus Berlin (61 Stück) und Wien berichteten (39 Stück). Übereinstimmend heben sie die Bedeutung der Novemberpogrome als Zivilisationsbruch hervor. Sie erlauben nicht nur, die Erfahrungen der Verfolgten während der Pogrome und der oftmals nachfolgenden Konzentrationslageraufenthalte zu untersuchen, sondern geben im Kleinen auch Auskunft zum Verhalten der nichtjüdischen Umwelt.

‚Die Juden!‘

Exemplarisch stehen hierfür die Erinnerungen von Harry Kaufmann, dem Ende 1938 die Emigration aus dem Deutschen Reich gelang (im oben genannten Band S. 323-318). Kaufman schrieb über einen Kinobesuch im Jahr 1937: Unter anderem sei ein Reklamefilm einer Versicherungsgesellschaft gelaufen, bei dem nach einem dargestellten Unfall gefragt worden sei, wer Schuld daran habe. Ein Kinozuschauer habe daraufhin gerufen: ‚Die Juden!‘ und das ganze Publikum habe gelacht.

Einerseits, so jedenfalls auch die Deutung von Thomas Karlauf könne man daraus schließen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung wenig mit der antisemitischen Hetze habe anfangen können, sich vielmehr darüber lustig machte. Allerdings, das scheint mir als Ergänzung notwendig, zeugen der Zwischenruf als auch die Reaktion des Publikums davon, wie weit die antisemitische Propaganda in der Bevölkerung bereits verbreitet war.

„Natürlich stirbt er“ – Mutmaßungen unter den Verfolgten

Zu den Menschen, die dem nationalsozialistischen Regime etwas entgegen zu setzen suchten, gehörte Ruth Andreas-Friedrich (1901-1977) in Berlin. Zu ihren Bekannten zählte auch der ehemalige Schriftleiter des Ullstein-Verlags Heinrich Mühsam (1900-1944).

Ein orchestriertes Attentat?

In ihrem Tagebuch notierte Andreas-Friedrich am 8. November 1938 das Attentat Grynszpans an vom Rath in Paris und verschiedene Munkeleien über eine ‚Rache der Juden‘ wie einen möglichen homosexuellen Hintergrund der Tat.

Einen Tag später hielt sie ein Gespräch mit Heinrich Mühsam fest, das deutlich macht, dass die als Juden verfolgten Menschen dem nationalsozialistischen Regime zutrauten, das Attentat lediglich inszeniert zu haben. Auf diese Weise, so die Annahme, sollte ein nationalsozialistischer Märtyrer geschaffen werden, der den Anlass für weitere antisemitische Aktionen geboten hätte.

Andreas-Friedrich schrieb: „‚Wird er sterben?‘ frage ich ihn [d. i. Mühsam]. ‚Und wenn er stirbt, was dann?‘ – ‚Natürlich stirbt er. Sonst hätte das Ganze ja keinen Wert. Um ihn zu rächen, muß man erst um ihn weinen. Je größer die Trauer, desto fanatischer der Haß. […] Kein Zweifel: der jüdische Krieg steht vor der Tür. Ich für meinen Teil gedenke Pazifist zu bleiben. Mehr als sterben kann auch ein Jude nicht.‘“ (zit. in: Andreas-Friedrich, Ruth: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Berlin 1947, S. 28).

Der Pogrom bricht los

Nur einen Tag darauf (10.11.1938) findet sich im Tagebuch der Hinweis, dass sich die Pogromgewalt nunmehr Bahn gebrochen habe und die Juden wie Hasen gejagt würden. In Folgeeintragungen sind Verhaftungen und Versuche der Verfolgten, sich zu verstecken, thematisiert.

Ruth Andreas-Friedrichs Entschluss, ihr Tagebuch (‚Der Schattenmann‘) später zu veröffentlichen sei ihr angesichts der Pogromereignisse gekommen.

Die Entlassung aus Buchenwald – Bericht von Karl E. Schwabe aus Hanau

Die ab dem 10. November 1938 in die Konzentrationslager verschleppten, als Juden verfolgten Männer wurden bis Ende 1938 größtenteils wieder freigelassen. Ihre späteren Berichte sind von den Erfahrungen der Lagerhaft dominiert. Immer wieder finden sich aber auch Hinweise darauf, wie die Entlassungen erfolgten.

Ein Monat in Buchenwald

Exemplarisch steht dafür ein Bericht des 1891 geborenen Kaufmanns Karl E. Schwabe dar, der aus Hanau stammte. Schwabe wurde am 10. November 1938 festgenommen und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nach seiner Entlassung am 10. Dezember 1938 gelang ihm im April 1939 die Emigration. Im Rahmen des 1939 ausgelobten Preisausschreibens von Wissenschaftlern der Havard University um Edward Y. Hartshorne, schrieb Schwabe seine Erlebnisse nieder (auszugsweise abgedruckt: Schwabe, Karl E.: Manuskript 202 (207), in: Gerhardt, Uta; Karlauf, Thomas (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009, S. 137–156).

Interessant ist Schwabes Bericht vor allem auch deshalb, weil er sehr detailliert die Entlassung aus dem Konzentrationslager schildert, die sich mit vielen anderen Erlebnisberichten decken – auch von aus Sachsen in das Lager verschleppten Verfolgten.

Schweigeerklärung und ‚Friseurbesuch‘

Nachdem er zur Freilassung aufgerufen worden sei, habe man ihn – so Schwabe – zunächst ärztlich untersucht. Im Falle von sichtbaren Misshandlungsspuren hätte eine Freilassung nicht stattgefunden. Er habe dann verschiedene Papiere auf der Schreibstube unterzeichnen müssen, darunter auch eine Schweigeerklärung und ein Dokument, in dem er bescheinigte, gut behandelt worden zu sein. Anschließend seien beim ‚Frisör‘ nochmals Haare und Bart geschoren wurden. Im ‚Postbüro‘, so Schwabe weiter, habe er dann von den 60 Reichsmark, die seine Frau ihm übersendet habe, 17 Reichsmark ausgezahlt erhalten. Der Rest sei einbehalten wurden, um angeblich mittellosen Gefangenen zuzukommen.

In der Kommandantur hätten die zur Freilassung Bestimmten dann mit Bürsten versucht, ihre zerschlissene Kleidung notdürftig zu reinigen. Vor der Abfahrt mit Bussen nach Weimar habe es dann noch eine Ansprache gegeben (vgl. ebd. S. 148 f.).

Jüdische Unterstützung der Entlassenen

Auf dem Bahnhof in Weimar habe man den Entlassenen dann nicht nur Fahrkarten für die Heimreise besorgt, sondern – und diesem Aspekt lohnt es sich, noch einmal genauer nachzugehen – sie hätten von jüdischen Frauen auch Kaffee und weiße Brötchen erhalten. Anschließend konnten sie mit Zügen endlich in Richtung ihrer Heimatorte fahren können – freilich mit der Auflage, sich dort polizeilich zu melden (vgl. ebd., S. 149).

Schwabes Bericht steht exemplarisch für die Erlebnisse vieler, auch der aus Sachsen in Buchenwald festgehaltenen Verfolgten, die mit geschorenem Kopf auch in den Folgewochen in ihren jeweiligen Heimatorten ein Zeichen der Stigmatisierung behielten. Schwabe starb 1967 in den USA.

Pogromgedenken (1): Dresden 1963

Nach 1945 dauerte es zunächst einige Jahre, bis das Gedenken an die Verbrechen während der Novemberpogrome von 1938, wenn auch nachgeordnet, zu einem sichtbaren Thema in der Gedenkagenda der DDR wurde.

Gedenkjahr 1963

Vor allem anlässlich des 25. Jahrestags der Pogrome 1963 erhielt das Gedenken einen größeren öffentlichen Stellenwert – auch in Sachsen: Am 11. November 1963 fand im Kongresssaal des Deutschen Hygienemuseums in Dresden eine zentrale Kundgebung des Nationalrats der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands, des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR und des Verbandes der Jüdischen Gemeinde in der DDR statt.

Zum Anlass sprachen unter anderem der Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, und Landesrabbiner Martin Riesenburger, die insbesondere mit Verweis auf Westdeutschland die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Antisemitismus betonten. Beide Reden machten deutlich, dass es nicht nur um das eigene Selbstverständnis und die politische Grundhaltung im antifaschistischen Deutschland ging. Vielmehr stand das Gedenken auch im Zeichen der westdeutschen Prozesse gegen Täter der Schoa und des Eichmann-Prozesses (1961) sowie des bundesdeutschen Pogromgedenkens, war also auch Teil der internationalen Außenrepräsentation.

Erste deutsche Briefmarke

Anlässlich des Jahrestages erschien 1963 in der DDR die erste deutsche Briefmarke, die den Pogromen gewidmet war.

Erinnerungen an den Pogrom in Pirna: Ein Leserbrief

In der ‚Sächsischen Zeitung‘ (Ausgabe Dresden) erschien am 16. November 1998 ein Leserbrief von Gertraud Burkert, der auf die Pogromereignisse in Pirna Bezug nahm.

Wir sahen die Scherben

Burkert berichtete:

„Mit großer Betroffenheit verfolge ich einige Sendungen des Fernsehens anläßlich der Pogromnacht und schäme mich der Schuld, die Deutsche auf sich geladen haben. Im November 1938 war ich zwölf Jahre alt. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Weil er Jude war, wurde das Geschäft des Herrn [Alfred] Cohn,* gegenüber unserer Schule in Pirna, zerstört, geplündert und mit bösen Worten, die die Vernichtung seines Volkes heraufbeschworen, beschmiert. Wir sahen die vielen Scherben, wenn wir aus dem Fenster unseres Klassenzimmers blickten, und auch die Menschen, die tatenlos zuschauten. Unzählige Juden in Deutschland wurden wie er beschimpft, verfolgt und vernichtet. Unser Lehrer, Herr [Michael] Smie,** ein würdiger alter Herr mit weißem Haar, stand sehr erregt vor uns und sagte, daß das Unrecht sei und eines Christen unwürdig. Wir konnten das Geschehen nicht begreifen und wurden ganz still.“

* Der Kaufmann Alfred Cohn war im Adressbuch für Pirna auf das Jahr 1938 in der Schuhgasse 9 verzeichnet.

** Smie ist im Adressbuch von Pirna für das Jahr 1938 als Oberlehrer a. D. in der Weststraße 29 verzeichnet.

Eine gerettete Thorarolle aus der Brodyer Synagoge in Leipzig?

1998 wurden in der Leipziger Universitätsbibliothek versteckte hebräische Schriften gefunden. Unter diesen befand sich auch eine Thorarolle, die auf Veranlassung der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig nach Israel gesendet und vom Verband ehemaliger Leipziger in Israel an Yad Vashem abgegeben wurde.

Eine Thorarolle der Brodyer Synagoge?

In einem Brief erklärte später der in Kanada lebende Isaac Israel, dass sein Vater Chaim am Morgen des 9. November 1938 einen anonymen Telefonanruf aus Stuttgart erhalten habe. Der Anrufer habe ihm mitgeteilt, dass Gewalt gegen die Juden im Deutschen Reich geplant sei.

Chaim sei daraufhin in die Brodyer Synagoge in der Keilstraße gegangen und habe einige Thorarollen in ein Gebäude geschafft, das dem britischen Jewish National Fund gehört habe.

Ob es sich tatsächlich um eine der vor den Pogromen geretteten Thorarollen handelt, ist indes nicht gesichert. Unklar ist insbesondere, wie die Rolle zusammen mit anderen in die Leipziger Universitätsbibliothek kam und wer sie dort versteckte.

Die Thorarolle wird heute im Holocaust History Museum von Yad Vashem in Jerusalem gezeigt.

Ausführlich zur Geschichte der Rolle: http://www.yadvashem.org/artifacts/museum/torah-scroll.html

 

Ein Thoraaufsatz im Zwingerteich – ein Objekt ohne Geschichte

Mit den Zerstörungen der Synagogen sowie den Beschlagnahmungen und Plünderungen von Einrichtungen der jüdischen Gemeinden ging in den Pogromtagen von 1938 wertvolles jüdisches Kulturgut verloren oder wurde vernichtet.

Ein Thoraaufsatz im Zwingerteich

Manche jüdische Kultusobjekte kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder in den Besitz der sächsischen jüdischen Gemeinden zurück. Ihnen gingen aber auch Stücke zu, deren Herkunft sich bis heute nicht klären ließ.

In Dresden fanden in den 1970er-Jahre Jugendliche beim Spielen einen Thoraaufsatz im Zwingerteich. Das korrodierte Stück befindet sich heute im Besitz der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Neben Krone, Mantel, Schild und Wimpeln diente es dem Schmuck der Thorarolle. Der Thoraaufsatz, der vom kulturellen Reichtum des jüdischen religiösen Lebens, aber auch dessen Brüchen zeugt, stammt wohl vom Ende des 18. Jahrhunderts.

Vollkommen unklar ist, wie er in den Zwingerteich gelangte und ob ein Zusammenhang mit den Dresdner Pogromereignissen vom November 1938 besteht, der jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann.

Der Pogrom in Borna – Nachtrag zu Frederic Rose und zur didaktischen Vermittlung der Pogromthematik

Über das Schicksal von Siegfried (später: Frederic) Rose, der 1938 gerade einmal 17 Jahre alt war, und des während der Pogrome niedergebrannten Kaufhauses ‚Britania‘ der Familie in Borna, habe ich bereits in anderen Blogeinträgen berichtet.

Projekt des Landesfilmdienstes

Rose stellte seine Erlebnisse auch für das ab 2011 vom Landesfilmdienst Sachsen e.V. durchgeführte Modellprojekt „Begegnungen. Historisches Lernen an Biografien. Ein Modellprojekt zur Erziehung nach Auschwitz“ zur Verfügung. Das von Andrea Geyer konzipierte Projekt richtete sich an Kinder zwischen 8 und 12 Jahren..

Als Ereigniszeuge und Verfolgter stellte Rose seine eigene Biografie und die Erlebnisse in der Zeit der Verfolgung unter den Nationalsozialismus nochmals vor. Er berichtete dabei auch noch einmal über die Pogromereignisse, die er in Borna erlebte:

„In dieser Nacht stürmten Nazis die Wohnung meines Onkels in Borna, verwüsteten sie und brannten letztlich unser Geschäft nieder. Ich war in dieser Nacht in Borna. Mein Onkel Calet und ich wurden von umherfliegenden Steinen verletzt und danach verhaftet. Wir verbrachten die Nacht im Landstreicherkerker im Reichstor und die folgende im damaligen Stadtgefängnis direkt hinter dem Amtsgericht. Dann wurden wir mit einem offenen Sammel-LKW in ein Sammellager nach Leipzig gebracht. Meine Familie musste später unterschreiben, dass sie den Brand selbst gelegt hatten und das Geschäft auf eigene Kosten wieder renovieren.

Mit siebzehn Jahren kam ich dann ins Konzentrationslager nach Sachsenhausen. Ich war dort für vier Monate. Eine Londoner Hilfsorganisation hatte von den Verhaftungen gehört und Geld gesammelt, um Einwanderungserlaubnisse für England zu kaufen. Ein Vertreter dieser Organisation ist direkt zu uns ins Konzentrationslager nach Sachsenhausen gekommen und hat zu dem Kommandanten gesagt: ‚Wir haben Einwanderungserlaubnisse nach England, ich möchte die sieben jüngsten Insassen haben.‘ Und ich war einer davon. So kam ich nach England.“

Ergebnisse der Projektarbeit 2012/2013

Für die Jahre 2012 und 2013 bietet das Projekt „Begegnungen“ auch einige Ergebnisse der Arbeit mit Schülern, die sich auch dem Thema der Novemberpogrome und dem Schicksal der Familie Rose zuwendeten – vor allem in Postern und Bildern. Diese zeigen unter anderem das zerstörte Geschäft der Roses in Borna.

Die Novemberpogrome in Sachsen 1938: Aktualisierte Karte (07/2018)

Für dem Buchband zu den Novemberpogromen in Sachsen 1938, der im Herbst im Verlag Hentrich & Hentrich erscheinen wird, habe ich heute auch die Karte zu den Pogromereignissen überarbeitet und an den aktuellen Kenntnisstand angepasst.

Nachträge und Streichungen

Im Ergebnis verfüge ich bislang über gesicherte Kenntnis für Pogrome in 56 Orten, die heute zum Freistaat Sachsen gehören. Aufgeführt sind Städte und Gemeinden, in denen es zu antisemitischen Kundgebungen, Gewaltexzessen und Übergriffen, Zerstörungen von Wohnungen, Geschäften und Einrichtungen der jüdischen Gemeinden sowie Verhaftungen kam.

Im Vergleich zu früheren Karten sind in die aktuelle Version einige Ergänzungen eingeflossen. Die Orte Kamenz, Oschatz und Radeberg, für die ich zwar einige Hinweise für Pogromereignisse hatte und die deshalb in den Vorversionen enthalten waren, sind dagegen vorerst herausgenommen. Sie bedürfen, wie auch weitere sächsische Orte – so etwa Bischofswerda und Hoyerswerda – weiterer vertiefender Forschungen.

Spiegel von Demografie und Forschungslandschaft

Die Verteilung der nachweislichen Pogromereignisse spiegelt, darauf hatte ich bereits in früheren Blogeinträgen hingewiesen, zunächst vor allem einmal die Bevölkerungsverteilung in Sachsen im Jahr 1938 wider. Sie ist gleichzeitig aber auch ein Indiz für die Forschungsdichte zur Geschichte der als Juden verfolgten Menschen in Sachsen.

Es zeigt sich, dass neben den Großstädten unzählige kleinere Orte mit den Pogromereignissen in Verbindung gebracht werden können. Es ist anzunehmen, dass sich deren Zahl im Laufe der weiteren Recherchen noch weiter erhöhen wird.

Über Hinweise zu weiteren Orten, an denen Menschen im November 1938 verfolgt, verhaftet und ihr Eigentum angegriffen wurden, würde ich mich weiterhin freuen (Kontakt).

Mein Dank geht nochmals an jene Personen und Initiativen, die mich an ihrem Wissen und ihren Forschungsergebnissen teilhaben ließen, ebenso an alle Zeitzeugen, die ich im Rahmen meiner bisherigen Recherchen befragen konnte.