Monthly Archives: März 2018

„Reichskristallnacht“ – noch zweimal zum Begriff (1)

In einem Beitrag von 2010 führt die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff ‚Reichskristallnacht‘ neben neun weiteren als sogenannte Stigmavokabel aus der Zeit des Nationalsozialismus auf. Abgesehen davon, dass der Beitrag noch mit den altbekannten und viel zu niedrigen Zahlen mit Blick auf die zerstörten Synagogen und die im Zuge oder in der Folge der Pogrome umgekommenen Verfolgten arbeitet, wird kurz auf den Ursprung des Begriffs eingegangen: Einerseits, so heißt es, könne ‚Reichskristallnacht‘ aus dem Berliner Volksmund stammen, andererseits habe ein Zeitzeuge den Begriff dem Berliner Kabarettisten und Schriftsteller Werner Finck zugeschrieben.

Ein Zeitzeuge erinnert sich

In einem Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Dezember 1998 meinte sich der besagte Zeitzeuge zu erinnern, wie Finck den Begriff in ironischer Deutung verwendet habe. Gesichert ist dies allerdings bis heute nicht – ganz im Gegensatz zur Verwendung des Begriffs durch einen NS-Beamten 1939.

Zum Begriff siehe auch: Eitz, Thorsten; Stötzel, Georg: Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Hildesheim 2007, 523-531.

Beschmierte Schaufenster in Kamenz? – Ein Nachtrag

Nach wie vor ist nicht eindeutig gesichert, ob es in Kamenz im Kontext der Novemberpogrome von 1938 zu antisemitischen Aktionen kam. Ein Zeitungsartikel von Anfang 1991 hatte nahegelegt, dass es dort zwar nicht zu Zerstörungen gekommen, aber ein Geschäft beschmiert worden sei.

Adolf Grünberger (1864-1945)

Neue Recherchen legen nun nahe, dass es sich dabei um das Geschäft des Kaufmanns Adolf Grünberger in der Schulstraße 2 gehandelt haben könnte. Der 1864 im oberschlesischen Plania geborene Grünberger stammte aus einem jüdischen Elternhaus, war aber zum Protestantismus konvertiert.

In Kamenz engagierte Grünberger sich ehrenamtlich: Er wirkte im Gewerbeausschuss und im Vorstand des Militärvereins. Nach 1933 verlor er diese Posten, wurde verfemt und geächtet. Schließlich kam er mit 79 Jahren ins Konzentrationslager Buchenwald, wo er am 31. März 1945 verstarb.

Erinnern in der Lessing-Stadt

Heute ist in Kamenz eine Straße nach Grünberger benannt. Ein Stolperstein erinnert an sein Schicksal. Ob beziehungsweise wie Grünberger und sein Geschäft am 9./10. November 1938 vom Pogrom betroffen waren, bleibt indes nach wie vor offen.

Literaturhinweis: Rostowski, Dieter: Zum Gedenken an Adolf Grünberger, in: Lausitzer Almanach (2008), 3, S. 110 f.

9. November (4): Gedenken und Mauerfall

Nachdem in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem kirchliche Initiativen den staatlichen Erinnerungsimperativ des DDR-Regimes an die Novemberpogrome von 1938 konterkarierten, überschlugen sich die Ereignisse im Herbst 1989.

Gedenkmarsch in Leipzig

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war Leipzig Ort des stillen Gedenkens: Ein Schweigemarsch des ‚Neuen Forums‘ führte nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche zum Gedenkstein am ehemaligen Standort der Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße. Daran nahmen mehr Menschen teil, als jemals zuvor – und in den Jahren danach.

‚Mauerfälle‘

Der Mauerfall bedeutete für kirchliche Initiativen und neu gegründete Vereine, die sich mit jüdischer Geschichte und Kultur in Sachsen befassten, einen enormen Schub: Nicht nur der Zugang zu den Archiven, sondern auch das allgemeine Interesse einer, auch von politischen Erwägungen getragenen Gedenkkultur, führte in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren zu einer großen Flut an Publikationen. Die Geschichte der Juden war in Sachsen gleichsam ‚angekommen‘.

Bibliografien zur Literatur über die Geschichte der Juden in Sachsen findet sich in Medaon Ausgabe 6 (2012), 10 sowie (für die Zeit des Nationalsozialismus) in Ausgabe 8 (2014), 15.

9. November (3): Das Elser-Attentat und seine Folgen 1939

Am 8. November 1939 – der Zweite Weltkrieg hatte zwei Monate zuvor begonnen – detonierte im Münchner Bürgerbräukeller eine, in einer Säule versteckte Bombe. Der Sprengsatz sollte Hitler töten, der anlässlich des Jahrestags des Hitler-Putsches von 1923 gesprochen, den Saal aber dieses Mal früher verlassen hatte. Sieben Menschen starben, sechzig wurden verletzt.

Der Plan des Tischlers

Platziert hatte die Bombe der Tischler Johann Georg Elser. Seine Entscheidung, Hitler zu töten, um einen großen Krieg zu verhindern, hatte er schon im Herbst 1938 getroffen. Eine Sonderkommission des Reichssicherheitshauptsamts nahm zunächst auch an, dass die Hintermänner des Attentats in Großbritannien zu vermuten seien. An eine Einzeltat Elsers, der noch am 8. November beim Versuch des Grenzübertritts in die Schweiz festgenommen worden war, glaubte zunächst niemand.

Folgen für die als Juden verfolgten Menschen

Auch für die als Juden Verfolgten blieb das Attentat nicht ohne Folgen: Am 9./10. November 1939, ein Jahr nach den Pogromen, führte die Gestapo eine reichsweite ‚Sonderaktion‘ durch, bei der auch Juden verhaftet wurden.

In Leipzig, so hat es der Historiker Steffen Held herausgearbeitet, kamen 98 Menschen in Gewahrsam. Unter diesen befanden sich auch 47 als Juden Verfolgte. Und der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald, Karl Otto Koch, ließ am 9. November 1939 21 jüdische Häftlinge als Vergeltung für den Anschlag erschießen.

Stadtchroniken als Quellen zu den Pogromereignissen: Das Beispiel Delitzsch (2)

Neben der ausführlichen Chronik, die die Pogromereignisse in Delitzsch im November 1938 schildert, existiert im Stadtarchiv noch eine weitere, handschriftliche Chronik für die Jahre 1816 bis 1956. Auch darin findet der Pogrom Eingang.

„Vorgehen gegen Juden“

Darin heißt es unter dem 11. November 1938:

„Wie in anderen Städten so ist man auch in Delitzsch zerstörend gegen die jüdischen Geschäftsinhaber vorgegangen. Laden und Wohnung eines jüdischen Geschäftsinhabers wurden zerstört, die jüdische Kapelle der ‚Judentempel‘ dem Erdboden gleichgemacht. Damit dürften wohl endlich und für immer die letzten äußerlichen Zeichen ‚jüdischer Niederlassung‘ in Delitzsch verschwunden sein.“

Der zeitgenössische Eintrag weißt einen deutlichen antisemitischen Einschlag auf, wie er etwa auch in der Tagespresse zu finden war und dem Tenor der nationalsozialistischen Judenpolitik entsprach.

Quelle: Stadtarchiv Delitzsch.

Stadtchroniken als Quellen zu den Pogromereignissen: Das Beispiel Delitzsch (1)

Ihren Eingang fanden die Pogromereignisse auch in die Chroniken mancher sächsischer Orte. Die Stadt Delitzsch etwa verfügte über eine inzwischen auch im Druck erschienene Chronik, die von 1207 bis 1990 reicht.

Die Pogrome in Delitzsch in der Ortschronik

Die Chronik enthält für den November 1938 einen umfassenden Eintrag, der sich fast ausschließlich dem lokalen Pogromgeschehen zuwendet.

Darin heißt es:

„In der Nacht vom 09. zum 10. November erfolgt das als ‚Reichskristallnacht‘ bekannte Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Der Chronist der Stadtverwaltung schreibt dazu:

‚Wie in anderen Städten, so ist man auch in Delitzsch zerstörend gegen die jüdischen Geschäftsinhaber vorgegangen. Laden und Wohnung eines jüdischen Geschäftsinhabers wurden zerstört, die jüdische Kapelle, der ‚Judentempel‘, dem Erdboden gleichgemacht. Damit dürften wohl endlich und für immer die letzten Zeichen ‚jüdischer Niederlassung“ in Delitzsch verschwunden sein.‘ In der Delitzscher Zeitung erscheint die Schlagzeile: ‚Delitzsch nun in seinem äußeren Stadtbild völlig judenrein!‘ […] Die Polizeibehörde Delitzsch erhält folgenden Funkspruch von der Stapo Halle: ‚Auf Grund des Attentates in Paris sind Demonstrationen zu erwarten. Die Polizei hat diese Demonstration nicht zu verhindern, sondern die Befolgung folgender Richtlinien zu überwachen. a. Eine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums ist zu verhindern. b. Wohnungen und Geschäfte von Juden dürfen nur zerstört, aber nicht geplündert werden. Plünderer sind festzunehmen. c.: Nichtjüdische Geschäfte sind unbedingt vor Schaden zu bewahren. d.: Ausländer, auch wenn es sich um Juden handelt, dürfen auf keinen Fall belästigt werden. Festnahmen von Juden sind, soweit sie in vorhandene Hafträume untergebracht werden können, durchzuführen. Dabei ist nur auf gesunde männliche Juden mit nicht zu hohem Alter zurückzugreifen.‘ In Delitzsch geschieht am 10. November 1938 folgendes: Am Nachmittag jenes Tages werden die drei großen Schaufenster des Jacobsohnschen Geschäftes in der Breiten Straße 1 zertrümmert. Die Schaufensterpuppen, die Auslagen aus dem Bekleidungsgeschäft, Hausrat und unzählige Glassplitter liegen auf der Straße. Aus dem Reichsbahnausbesserungswerk hat eine Rotte Männer unter Führung eines SS-Mannes, der in der Bismarckstraße ein Textilgeschäft hat, das Geschäft und die Wohnung der Familie Jacobsohn geschändet. Danach geht es grölend zum Judenfriedhof. Unter den mitziehenden Kindern und Jugendlichen befinden sich auch Konfirmanden der Knabenvolksschule. Auf dem jüdischen Friedhof wird die Kapelle angezündet und zerstört und die angeheuerten Jugendlichen werfen die Grabsteine um. Nach diesen Vorkommnissen berichtet am darauffolgenden Tag die Presse, daß sich das gesunde deutsche Volksempfinden einmal mehr spontan Luft verschafft hätte! Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde berichtet am 10. November an den Herrn Landrat und an die Stapo Halle: Politische Tagesmeldung: Am 10. November war gegen 17 Uhr eine Demonstration mit etwa 300 Delitzscher Einwohnern. Die Erregung der Menge steigerte sich über die ruchlose Tat des Juden Grynspan an den Legationsrat von Rath von Minute zu Minute, bis schließlich die Menge dazu überging, das in der Breiten Straße dem Juden Walter Jacobsohn gehörende Kaufhaus zu zerstören. Das Ereignis war so groß, daß die gesamte Laden- und Wohnungseinrichtung zerstört wurde. Auch der auf dem Judenfriedhof befindliche Judentempel (es handelt sich nur um eine Andachtshalle) wurde von der erregten Menge in Brand gesteckt. Die Polizei versuchte, die Plünderung bei Jacobsohn zu verhindern. Die im Grundstück befindlichen Juden, Frau Jacobsohn sen. und jun., sowie der aus Bitterfeld stammende Jude Georg Wolff, der zu Besuch weilte, werden in Schutzhaft genommen. Der Inhaber des Ladens Walter Jacobsohn war geflüchtet und wurde von der Delitzscher Polizei kurz vor Benndorf gefangen und kam in Schutzhaft. Die beiden Frauen wurden freigelassen. Jacobsohn und Wolff wurden am 10. November 1938 19.30 Uhr der Stapo Halle vorgeführt.“

Der Eintrag weist ausführlich die in Delitzsch erfolgten Übergriffe nach, benennt aber keine Täter namentlich – im Gegensatz zu den Verfolgten, deren Namen wir erfahren. Interessant ist der Chronikeintrag vor allem deshalb, weil er auch die Befehls- und Berichtsketten deutlich macht, die mit den Ereignissen in Verbindung standen.

Quelle: Stadtarchiv Delitzsch.

Die Instrumentalisierung angeblicher Waffenfunde bei Juden in Leipzig

Die vorgebliche Suche nach Waffen in den Wohnungen der Verfolgten, die oft Zerstörungen, Gewalt und Diebstähle nach sich zogen, als auch das Verbot des Waffenbesitzes für Juden vom 11. November 1938 zeigen nur zu deutlich, wie die antisemitische Politik und Propaganda die als Juden Verfolgten zu Kriegstreibern und Gewaltmenschen abzustempeln versuchte.

Waffen im Leipziger ‚Judentempel‘

In Leipzig seien während des Pogroms, so berichten es Zeitungen, gar Waffen gefunden worden. Die ‚Werdauer Zeitung‘ (wie zahlreiche andere sächsische Blätter) schrieb dazu am 11. November:

„In einem der Judentempel in Leipzig hat man einen sehr aufschlußreichen Fund gemacht. Hier waren braune SA.-Hosen, Parteiabzeichen und Munition versteckt. Dieser Fund dürfte Beweisstücke dafür liefern, daß von jüdischer Seite beabsichtigt war, Rassegenossen als SA.-Männer zu tarnen und dann irgendwelche Zwischenfälle zu provozieren!“ (Werdauer Zeitung für Stadt und Land, 58, 264 (11.11.1938), S. 3).

Auch hier also wurden die als Juden Verfolgten wieder zu Kriegstreibern und Unruhestiftern gemacht, gegen die der ‚spontane Volkszorn‘ der Pogrome mehr als berechtigt sei. Die gefundenen Objekte wurden vermutlich untergeschoben.

Pogromfolgen (9): Ausschluss von Universitäten

Nur wenige Tage nach dem Ausschluss von als Juden verfolgten Schülern von deutschen Schulen erließ das Reichsministerium für Wissenschaft am 8. Dezember 1938 einen weiteren Erlass zum ‚Ausschluss von Juden an den deutschen Hochschulen‘.

Ausschluss von universitären Einrichtungen und Bibliotheken

Der Erlass untersagte als Juden verfolgten Wissenschaftlern und sonstigen Personen die Genehmigung, weiterhin die etwa nach ihrem Ausscheiden aus dem Anstellungsverhältnis an den Hochschulen privat aufgesuchten universitären Einrichtungen, wie Institute und Bibliotheken, weiter zu nutzen.

Zu den bekanntesten Leidtragenden dieses Erlasses zählte Victor Klemperer in Dresden, der darüber auch in seinem Tagebuch berichtete.

Pogromfolgen (8): Ausschluss vom Schulbesuch

Auch für als Juden verfolgte Kinder und Jugendliche, die noch Bürgerschulen und Gymnasien besuchten, kam es nach den Pogromen zu einschneidenden Folgen: Am 15. November 1938 erließ das Reichsministerium für Wissenschaft einen Erlass, in dem es hieß, dass keinem deutschen Lehrer mehr die Unterrichtung von und keinem deutschen Schüler das Zusammensein mit jüdischen Schulkindern zugemutet werden könne.

Ausschluss aus deutschen Schulen

Sie wurden deshalb vom ferneren Schulbesuch an öffentlichen Schulen ausgeschlossen und durften fortan nur noch Jüdische Schulen besuchen. Davon waren auch als Juden verfolgten Schüler in Sachsen betroffen – sofern sie überhaupt noch die öffentlichen Schulen besuchten: In Pirna etwa wurde der letzte jüdische Schüler bereits am 10. November 1938 der Schule verwiesen (Jensch, Hugo: Antisemitismus und Rassismus, in: Böhm, Boris et al. (Bearb.): Unsere Heimat unterm Hakenkreuz. Ein Beitrag zu nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, Verfolgung und antifaschistischem Widerstand in Amtshauptmannschaft und Kreis Pirna von 1933 bis 1945, Pirna 2003, S. 243–254, hier: S. 250).

Gerade für verfolgte in den kleineren Orten bedeutete der Ausschluss, dass sie ihre Kinder fortan in die größeren Städte zum Unterricht schicken mussten, was oft einen erheblichen finanziellen und logistischen Aufwand bedeutete.

Pogromfolgen (7): Ausschluss von der öffentlichen Fürsorge

Am 19. November 1938 erließen die Reichsminister des Innern, für Arbeit und für Finanzen eine ‚Verordnung über die öffentliche Fürsorge der Juden‘, die die Verfolgten faktisch von der öffentlichen Wohlfahrtsfürsorge ausschloss. Die Verordnung trat zum 1. Januar 1939 in Kraft.

Ausschluss von öffentlichen Leistungen

Für bedürftige Verfolgte bedeutete dies, dass sie nunmehr bis auf wenige Ausnahmen bei Armut und Bedürftigkeit keine öffentlichen Gelder mehr in Anspruch nehmen konnten. Vielmehr sollten diese Aufgabe nunmehr jüdische Fürsorgeeinrichtungen übernehmen. In der Folge ging die Zahl der Verfolgten, die öffentliche Gelder in Anspruch nahmen immer weiter zurück: Verzeichneten Leipzig im März 1939 noch 182 und Dresden 139 von öffentlicher Fürsorge unterstützte Parteien, ging diese Zahl bis Ende 1940 auf null zurück.

Mehr zur nationalsozialistischen Wohlfahrtspolitik gegenüber den Juden bei: Gruner, Wolf: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933-1942), München 2002.

Zum Originaltext der Verordnung siehe: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=dra&datum=19380004&seite=00001649&zoom=2