Monthly Archives: November 2018

Ein ‚falsches‘ Pogromfoto aus Leipzig – Nachtrag

Bereits an früherer Stelle habe ich eine Fotografie erwähnt, die ein brennendes Gebäude in Leipzig und die Feuerwehr im Einsatz zeigt. Oft wurde und wird (aktuell u. a. hier) dieses Foto genutzt, um die Pogromereignisse von 1938 ins Bild zu setzen. Bereits die Tatsache, dass auf dem Foto Schnee zu erkennen ist, zeigt aber, dass es zu einem anderen Zeitpunkt aufgenommen wurde.

Das Original liegt im Stadtarchiv Leipzig und wurde um 1940 von dem Fotografen Max Ellrich aufgenommen. Ellrich war Pressefotograf, wurde 1908 in Leipzig geboren und gilt seit 1943 als in der Sowjetunion vermisst.

Ort identifiziert

Gestern habe ich in Leipzig im Rahmen eines Vortrags über die Fotografien zum Leipziger Pogrom auch das falsch zugeordnete Foto besprochen. Tatsächlich gab es daraufhin aus dem Publikum einen Hinweis auf den möglichen Standort des Gebäudes, den ich inzwischen nachrecherchieren konnte. Das Foto zeigt demnach das 1855 errichtete Gebäude in der Seeburgstraße 47. Dort befand sich Ende der 1930er-Jahre die Papiergroßhandlung O. Th. Winckler. Zu sehen ist also ein Brand in dieser Firma.

Das inzwischen renovierte Gebäude dient heute als Studentenwohnheim der Universität Leipzig.

Die Novemberpogrome in Sachsen 1938 – Ein Blogprojekt im Rückblick

Seit Anfang November 2017 gab es auf dieser Seite für jeden Tag einen kleinen Beitrag, der einen Bezug zu den Novemberpogromen des Jahres 1938 und speziell den Pogromereignissen in Sachsen hatte: Biografien, Zeitzeugenberichte, Pogromgeschichten an einzelnen Orten, Quellen und Elemente der Erinnerungskultur nach 1945 wurden vorgestellt.

Kein Ende

Im Rückblick und in der Vorausschau steht heute fest, dass längst nicht alle Geschichten erzählt und Dimensionen der Pogrome erschlossen sind. In regelmäßigen Abständen wird es deshalb auch in Zukunft weitere Blogbeiträge geben. Das Projekt BRUCH|STÜCKE ist noch keineswegs abgeschlossen – es geht vielmehr weiter.

Ich bin auch in Zukunft für alle Hinweise und Anregungen zum Thema dankbar. Und nach wie vor haben die Geschichten der Menschen von 1938 für uns Menschen heute eine Botschaft.

Bruchstücke (1): Erinnerungen in Dresden

Zur Eröffnung der Ausstellung Bruch|Stücke – Die Novemberpogrome in Sachsen 1938 in Dresden Mitte Oktober 2018 war unter den Besuchern auch der 1934 in Dresden geborene Veit Ringel. Er lebte mit seiner Mutter in der Annenstraße.

Scherben auf dem Fußweg

Ein Ereignis prägte sich Veit Ringel ins Gedächtnis ein: An einem Tag, als er mit seiner Mutter auf der Prager Straße unterwegs gewesen sei, habe er viele Glasscherben liegen sehen. Seine Mutter sei mit ihm gar auf der sonst verbotenen Straße gelaufen- für den Jungen ein einprägsames Erlebnis. An mehr kann er sich jedoch nicht erinnern.

Später verband Ringel dieses Erinnerungsbruchstück mit dem Ereignis der Dresdner Pogromgewalt. Gerade auf der Prager Straße, das zeigen mehrere Augenzeugenberichte und Zeitungsartikel, waren am 10. November 1938 die Schaufenster ‚jüdischer‘ Geschäfte eingeschlagen worden. Ringel nimmt heute an, dass sich die Mutter selber habe ein Bild der Ereignisse machen wollen. Geredet habe man darüber aber kaum.

Gedenkjahr 2018 (12): Protest in Dresden

In den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen gerade mit einem neu erstarkenden Nationalismus und neuen Formen der Menschenfeindlichkeit dient das Erinnern an die Novemberpogrome von 1938 auch als Mahnung, die Geschichte nicht zu vergessen.

Kunst als Protest

Neben dem Zentrum für politische Schönheit versuchen auch andere Kunstinitiativen, einen kreativen Umgang mit dem Rechtsruck und revisionistischen Tendenzen der Vergangenheitsdeutung zu finden. In Dresden luden Mitglieder der „Radical Performence Collective (RPC)“ in der Nacht zum 9. November 2018 vor einem Thor Steinar-Laden Glasscherben ab und entzündeten darauf Kerzen. Auf diese Weise solle den Betreibern, der in rechten Kreisen beliebten Kleidermarke, ihre historische Verantwortung sichtbar gemacht werden.

Mit dem zerbrochen Glas nimmt die Aktion deutlich Bezug auf die Ereignisse der Novemberpogrome, während derer auch in Sachsen hundertfach Schaufenster von Geschäften eingeschlagen wurden.

Gedenkjahr 2018 (11): Erinnerung an Hermann Fürstenheim

In Sachsen kamen am 10. November 1938 mindestens drei Menschen in direkter Folge der Pogromgewalt ums Leben. Neben Felix Benno Cohn und Rachmiel Preismann in Leipzig traf dieses Schicksal den Geschäftsführer des Chemnitzer Warenhauses Tietz, Hermann Fürstenheim.

Erinnern an die Menschen von 1938

Jürgen Nitsche, der sich intensiv mit der Geschichte der Juden in Mittweida, Chemnitz und Annaberg-Buchholz befasst, hat in der aktuellen Ausgabe des Amtsblatts der Stadt Chemnitz einen kleinen Beitrag zur Erinnerung an Fürstenheim verfasst. Der seit 1904 in Chemnitz lebende Fürstenheim wurde von vier SA- und SS-Männern in den Keller seines Hauses auf den Kaßberg gezerrt und dort mit mehreren Schüssen erschossen. Der Überfall und auch die Tat erfolgten ganz offensichtlich gezielt – ein vorsätzlicher Mord also. Strafrechtlich verfolgt wurden die Täter indes zunächst nicht, sondern lediglich vom Obersten Parteigericht der NSDAP verwarnt. Die Erosion des Rechtsstaats war zu dieser Zeit bereits zu weit fortgeschritten.

Nach 1945 musste nur einer der Täter für seine Tatbeteiligung ins Gefängnis. Ein Mittäter wurde mangels Beweisen freigesprochen. Die anderen mussten sich anscheinend nie vor Gericht verantworten.

Lit.: Nitsche, Jürgen: Erinnerung an einen Chemnitzer: Hermann Fürstenheim, in: Amtsblatt Chemnitz 29, 45 (09.11.2018), S. 5.

Jürgen Nitsche hat sich in einem weiteren Beitrag im Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde Chemnitz (Jüdisches Chemnitz, 9/2018) auch den weiteren Opfern des Novemberpogroms von 1938 zugewendet.

Gedenkjahr 2018 (10): Schändung

Stolpersteine gehören heute in Sachsen zum zentralen Bestandteil eines dezentralen Erinnerns an Menschen, die von den Nationalsozialisten als Juden, aber auch als Widerstandskämpfer, Zeugen Jehovas, wegen ihrer Behinderung oder psychischen Erkrankung oder als Homosexuelle verfolgt waren. Auch in Chemnitz wurden erst in diesem Jahr neue Steine verlegt.

Steine putzen

In vielen sächsischen Städten haben die Initiatoren der Stolpersteine – Vereine wie Privatpersonen – in den letzten Jahren die Praxis etabliert, die Steine am 9. November zu putzen, mit Kerzen sowie zusätzlichen biografischen Informationen zu versehen. In Chemnitz wurden aus Anlass des Pogromerinnerns Steine bereits am 8. November geputzt.

Schändung

Dieses Jahr wurden 13 der inzwischen 195 in Chemnitz verlegten Stolpersteine rund um den 9. November von Unbekannten beschmiert und nachhaltig beschädigt. Deutlich macht dies vor allem eins: Die Anfechtung einer historisch gewachsenen, das demokratische Grundverständnis nachhaltig mitprägenden Erinnerungskultur durch mutmaßlich auch in diesem Fall nationalistisch-rechte Kreise. Doch gerade gegen solche Übergriffe steht die Mahnung der Pogromgewalt und der nationalsozialistischen, menschenverachtenden Verfolgungspraxis: Wehret den Anfängen!

Gedenkjahr 2018 (9): Ausstellung der Carlebach Stiftung in Leipzig

Vom 4. November 2018 bis 31. März 2019 präsentiert die Ephraim Carlebach Stiftung im Ariowitsch-Haus Leipzig die Ausstellung „November 1938 – eine Spurensuche in Leipzig“. Die Ausstellung präsentiert Ergebnisse eines Fotoworkshops der Stiftung mit SchülerInnn der Rudolf-Hildebrand-Schule Markkleeberg, die im Rahmen des Projektes „November 1938 – Szenische Sequenzen des Erinnerns“ entstanden.

Fotografien an den Orten von damals

Grundlage der Ausstellung bildet der in einer Leipziger Tageszeitung abgedruckte Brandbericht, der mehrere Orte benennt, an denen am 10. November 1938 Brände gelegt worden waren. Neben historischen Fotografien haben die SchülerInnen aktuelle Fotos von heute ergänzt, stellen also gleichsam auf diese Weise die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit her.

Der Eintritt in die Ausstellung ist kostenlos.

Ausstellungsflyer

Gedenkjahr 2018 (8): Eine Demonstration in Leipzig

Um eine neue Form des Erinnerns ging es am Abend des 8. November 2018 in Leipzig: Eine Gedenkdemonstration des Initiativkreises 9. November zog mit bis zu 2.000 Teilnehmern durch die Innenstadt zu Orten der Pogrome von 1938.

An den Orten des Pogroms

Die TeilnehmerInnen erlebten an Orten der Pogromgewalt, wie der ehemaligen Höheren Israelitischen Schule (Carlebachschule), dem Parthenufer, der Keilstraßensynagoge, dem Brühl und schließlich dem ehemaligen Standort der zerstörten Synagoge in der Gottschedstraße Installationen mit Bild und Licht sowie Einspielungen von Erinnerungen und Texten.

Das Besondere des Abends war, dass das Erinnern auf diese Weise nicht allein an einem Ort, sondern im gesamten Zentrum der Stadt präsent war.

Neu aufgefundener Augenzeugenbericht aus Dresden: Ein Bruchstück

Im Zuge neuer Recherchen ist mir ein Beitrag des Altphilologen Johannes Irmscher (1920-2000) bekannt geworden. Darin schrieb Irmscher 1990 zur Geschichte der Dresdner Synagoge. Im letzten Teil des Aufsatzes ging er dabei auch auf die Dresdner Pogromereignisse ein:

„Als Primaner [an der Kreuzschule – Anm. DR] wurde ich in Dresden Zeuge der Kristallnacht und der Brandstiftung der Synagoge. Unser Religionslehrer Dr. FRITZ KÖLTZSCH nahm mich an diesem Tag beiseite und sagte zu mir: ‚Ich nehme an, Sie mißbilligen ebenso wie ich das, was hier geschieht.‘ Diese offenen Worte des Lehrers zu seinem Schüler waren angesichts des hemmungslosen Wütens der fanatisierten faschistischen Mordbrenner eine antifaschistische Tat, die gefährliche Folgen hätte nach sich ziehen können“ (Irmscher, Johannes: Die Dresdner Synagoge, in: Wissenschaftliche Zeitschrift (Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe) 39 (1990), 1, S. 99-101, hier S. 101).

Zur Biografie Irmschers

Interessant sind Irmschers Aussagen vor dem Hintergrund, dass er selbst 1938 der NSDAP beitrat – noch als Schüler; sein Abitur legte er erst im Folgejahr ab. In der DDR arbeitete Irmscher als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit zu.

Fritz Költzsch

Neu ist auch der Hinweis auf die Positionierung des Studienrats und Lehrers Fritz (Friedrich) Költzsch: Dieser hatte 1928 zur Geschichte Kursachsens und der Juden in der Ära Brühl promoviert (Költzsch, Fritz: Kursachsen und die Juden in der Zeit Brühls, Engelsdorf-Leipzig 1928).

Eine Ausstellung wandert: Freiberg

Morgen, am 80. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938, wird der schwerpunktmäßig auf den Chemnitzer und südwestsächsischen Raum konzentrierte Teil der Ausstellung BRUCH|STÜCKE im mittelsächsischen Freiberg eröffnet. Die öffentliche Vernissage beginnt um 14 Uhr im Beruflichen Zentrum für Technik und Wirtschaft „Julius Weisbach“ (Schachtweg 2, 09599 Freiberg). Die Ausstellung ist dann ab dem 12. November bis voraussichtlich zum 7. Dezember 2018 an den Schultagen jeweils von 8:00 bis 14:00 Uhr zu sehen.

Die Wanderung der Ausstellung hat damit also begonnen – und sie wird nun zugleich an einem Ort gezeigt, an dem sich 1945 ein KZ-Außenlager befand.

Die Freiberger Pogromereignisse

Auch in Freiberg kam es am 10./11. November 1938 zu Pogromereignissen, von denen bereits an anderer Stelle die Rede war. Es sind vor allem die Arbeiten des Freiberger Forschers Michael Düsing, die das Geschehen dieser Tage und die Schicksale der als Juden verfolgten Freiberger greifbar machen. Mit einer zusätzlichen Ausstellungstafel zu den Freiberger Pogromereignissen erhalten die Besucher einen besonderen Einblick in das Geschehen vor Ort.

Neue Tafeln

Es ist Ziel der Ausstellung, in Zukunft nicht nur zu wandern, sondern auch zu wachsen: Auf der Grundlage eines Vorlage zur Erstellung neuer Ausstellungstafeln sollen Lokalforscher, Vereine, Kirchgemeinden und insbesondere auch Akteure aus dem Bildungsbereich (Lehrer, Schüler, Studenten u. a. m.) die Möglichkeit erhalten, die Ausstellung zu erweitern.