Ihren Eingang fanden die Pogromereignisse auch in die Chroniken mancher sächsischer Orte. Die Stadt Delitzsch etwa verfügte über eine inzwischen auch im Druck erschienene Chronik, die von 1207 bis 1990 reicht.
Die Pogrome in Delitzsch in der Ortschronik
Die Chronik enthält für den November 1938 einen umfassenden Eintrag, der sich fast ausschließlich dem lokalen Pogromgeschehen zuwendet.
Darin heißt es:
„In der Nacht vom 09. zum 10. November erfolgt das als ‚Reichskristallnacht‘ bekannte Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Der Chronist der Stadtverwaltung schreibt dazu:
‚Wie in anderen Städten, so ist man auch in Delitzsch zerstörend gegen die jüdischen Geschäftsinhaber vorgegangen. Laden und Wohnung eines jüdischen Geschäftsinhabers wurden zerstört, die jüdische Kapelle, der ‚Judentempel‘, dem Erdboden gleichgemacht. Damit dürften wohl endlich und für immer die letzten Zeichen ‚jüdischer Niederlassung“ in Delitzsch verschwunden sein.‘ In der Delitzscher Zeitung erscheint die Schlagzeile: ‚Delitzsch nun in seinem äußeren Stadtbild völlig judenrein!‘ […] Die Polizeibehörde Delitzsch erhält folgenden Funkspruch von der Stapo Halle: ‚Auf Grund des Attentates in Paris sind Demonstrationen zu erwarten. Die Polizei hat diese Demonstration nicht zu verhindern, sondern die Befolgung folgender Richtlinien zu überwachen. a. Eine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums ist zu verhindern. b. Wohnungen und Geschäfte von Juden dürfen nur zerstört, aber nicht geplündert werden. Plünderer sind festzunehmen. c.: Nichtjüdische Geschäfte sind unbedingt vor Schaden zu bewahren. d.: Ausländer, auch wenn es sich um Juden handelt, dürfen auf keinen Fall belästigt werden. Festnahmen von Juden sind, soweit sie in vorhandene Hafträume untergebracht werden können, durchzuführen. Dabei ist nur auf gesunde männliche Juden mit nicht zu hohem Alter zurückzugreifen.‘ In Delitzsch geschieht am 10. November 1938 folgendes: Am Nachmittag jenes Tages werden die drei großen Schaufenster des Jacobsohnschen Geschäftes in der Breiten Straße 1 zertrümmert. Die Schaufensterpuppen, die Auslagen aus dem Bekleidungsgeschäft, Hausrat und unzählige Glassplitter liegen auf der Straße. Aus dem Reichsbahnausbesserungswerk hat eine Rotte Männer unter Führung eines SS-Mannes, der in der Bismarckstraße ein Textilgeschäft hat, das Geschäft und die Wohnung der Familie Jacobsohn geschändet. Danach geht es grölend zum Judenfriedhof. Unter den mitziehenden Kindern und Jugendlichen befinden sich auch Konfirmanden der Knabenvolksschule. Auf dem jüdischen Friedhof wird die Kapelle angezündet und zerstört und die angeheuerten Jugendlichen werfen die Grabsteine um. Nach diesen Vorkommnissen berichtet am darauffolgenden Tag die Presse, daß sich das gesunde deutsche Volksempfinden einmal mehr spontan Luft verschafft hätte! Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde berichtet am 10. November an den Herrn Landrat und an die Stapo Halle: Politische Tagesmeldung: Am 10. November war gegen 17 Uhr eine Demonstration mit etwa 300 Delitzscher Einwohnern. Die Erregung der Menge steigerte sich über die ruchlose Tat des Juden Grynspan an den Legationsrat von Rath von Minute zu Minute, bis schließlich die Menge dazu überging, das in der Breiten Straße dem Juden Walter Jacobsohn gehörende Kaufhaus zu zerstören. Das Ereignis war so groß, daß die gesamte Laden- und Wohnungseinrichtung zerstört wurde. Auch der auf dem Judenfriedhof befindliche Judentempel (es handelt sich nur um eine Andachtshalle) wurde von der erregten Menge in Brand gesteckt. Die Polizei versuchte, die Plünderung bei Jacobsohn zu verhindern. Die im Grundstück befindlichen Juden, Frau Jacobsohn sen. und jun., sowie der aus Bitterfeld stammende Jude Georg Wolff, der zu Besuch weilte, werden in Schutzhaft genommen. Der Inhaber des Ladens Walter Jacobsohn war geflüchtet und wurde von der Delitzscher Polizei kurz vor Benndorf gefangen und kam in Schutzhaft. Die beiden Frauen wurden freigelassen. Jacobsohn und Wolff wurden am 10. November 1938 19.30 Uhr der Stapo Halle vorgeführt.“
Der Eintrag weist ausführlich die in Delitzsch erfolgten Übergriffe nach, benennt aber keine Täter namentlich – im Gegensatz zu den Verfolgten, deren Namen wir erfahren. Interessant ist der Chronikeintrag vor allem deshalb, weil er auch die Befehls- und Berichtsketten deutlich macht, die mit den Ereignissen in Verbindung standen.
Quelle: Stadtarchiv Delitzsch.