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Im polnischen Konsulat in Leipzig

Helga Ehlert, geb. Dresner, berichtete nicht nur über die Flucht in polnische Konsulat in Leipzig am 10. November 1938, sondern auch über das, was sie dort erlebte:

„Wir waren fast zwei Tage im Konsulat. Meine Mutter erlitt einen Schwächeanfall, und der polnische Generalkonsul [Feliks] Chiczewski, ordnete an, daß sie in der oberen Etage, die seine Privaträume beherbergte, in einen Ruheraum kam und sich jemand um sie kümmerte. Die unteren Räume, die Eingangshalle und das Souterrain waren von Hunderten verängstigten polnischen Juden bevölkert. Sie weinten, waren total ratlos, wußten überhaupt nicht, was sie machen sollten. Es war entsetzlich.

Ich erinnere mich, daß ich ein grünes Kleid getragen habe. Aber ich war damals nicht so entsetzt, wie ich es heute bin, wo ich das mit dem Abstand und mit der Weisheit des Alters sehe. Ich war ein Backfisch, ein Flapper. Ich habe mit den Augen des Teenagers gesehen, und wie gesagt, meine Eltern haben alle politischen Dinge in der Nazizeit von uns ferngehalten. Wir waren ziemlich unbedarft, mein Bruder und ich. Aber die Situation im Konsulat hat uns die Augen etwas geöffnet. Wir waren dort zwei Tage, und in der Nacht hat der Konsul im Graten Stroh auslegen lassen, damit die Leute dort campieren konnten. Es waren so viele, es war kein Platz für sie im Garten und auch nicht in den Räumen. Also mußte man draußen in der Kälte campieren. Ich konnte auf einem Campingbett in einem großen Saal im Keller nächtigen. Von Schlaf war keine Rede, weil alles weinte und ratlos war. Am Tage haben Schaulustige vor dem Konsulat gestanden und interessiert auf die weinenden und klagenden Juden geschaut. Ich glaube, daß sie auch Schmähungen gerufen haben.

Wir konnten zwei oder drei Tage später wieder nach Hause gehen. Ich erinnere mich noch genau, daß der 9. und 10. November auf einen Mittwoch und auf einen Donnerstag fielen. Inzwischen lagen halbherzige Zusagen der Verwandten aus Edinburgh und aus Chicago vor, sie würden uns aufnehmen. Mein Vater war beherrscht von der Idee, daß er erst seine achtzigjährige Mutter bei Verwandten in Polen unterbringen müsse, ehe er mit seiner Familie nach Chicago reisen könne. Die Oma Dresner hatte nur einen Arm und war halbblind, und es gab in Polen eine relativ große Verwandtschaft, die sich um sie gekümmert hätte“ (abgedruckt in: Ehlert, Helga: Ich fühle mich nicht als Deutsche, in: Ostow, Robin (Hg.): Juden aus der DDR und die deutsche Wiedervereinigung. Elf Gespräche, Berlin 1996, S. 162–197, hier: S. 166-168).

Das Ende der Kindheit

Was Ehlert hier im Rückblick auch schilderte, war das Ende ihrer Kindheit und Unbeschwertheit. 1939 reiste sie mit ihrem Bruder Rolf über einen Kindertransport nach England aus. Ihre Eltern und weitere Verwandte kamen während der Schoa ums Leben. Sie selbst kehrte nach Kriegsende nach Ostdeutschland zurück und starb 2014.

Radiopropaganda nach den Pogromen

Der US-amerikanische Historiker Alan E. Steinweis gilt als einer der besten Kenner der Ereignisse der Pogrome vom November 1938.

Radio und Pogrom

Bei seinen Recherchen zu der antisemitischen Gewalt warf Steinweis auch einen Blick auf das deutsche Radioprogramm. Er stellte fest, dass nach den Pogromen nicht nur in den Zeitungen eine wüste antisemitische Propagandakampagne angefahren worden war, sondern auch im Radio. Seien in den Wochen zuvor kaum antisemitische Sendungen gelaufen, habe es danach eine große Zahl an entsprechenden Beiträgen gegeben, darunter solche zur Propagandaausstellung „Der ewige Jude“, zur „Judenfrage“, zu „jüdischer“ Kriminalität, zu den Rothschilds oder zu den Juden in den USA und der Sowjetunion.

Im Dezember habe die Anzahl der antisemitischen Beiträge dann abgenommen. Diese blieben aber weiterhin Bestandteil des Programms. Auch hier lässt sich eine ähnliche Tendenz auch für die Pressepropaganda feststellen.

Beide, Zeitung und Radio, erreichten auch die Hörer in Sachsen – jene, die verfolgt wurden, ebenso wie jene, die verfolgten oder zusahen.

Zur Lektüre: Steinweis, Alan E.: Kristallnacht 1938, Cambridge/London 2009.

Verfolgte schreiben in der Emigration über die Pogrome

Im August 1939 lobte die ‚New York Times‘ einen Aufsatzwettbewerb aus: Augenzeugen sollten berichten, was sie nach dem 30. Januar 1933 im Deutschen Reich erlebt hatten.

263 Manuskripte

Ausgelobt hatten den Wettbewerb Wissenschaftler der Havard University unter der Leitung von Edward Hartshorne. Dieser plante ursprünglich ein Buch unter dem Titel ‚Nazi Madness. November 1938‘, das 1941 erscheinen sollte, allerdings nie die Öffentlichkeit erblickte.

Ausführlich über diese Geschichte berichtet ein aktuell über SPIEGEL ONLINE abrufbarer Artikel, der auch auf die Hintergründe eingeht: http://www.spiegel.de/einestages/emigranten-preisausschreiben-augenzeugen-ueber-novemberpogrome-1938-a-1203921.html

2009 erschien eine Auswahl der von Hartshorne gesammelten Berichte als Edition, herausgegeben von Ute Gerhardt und Thomas Karlauf (Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938).

Die Verteilung der Pogromgewalt in Sachsen (2): Forschungsdichte

Einhergehend mit den Bezügen zwischen Pogromgewalt und Bevölkerungsdichte lässt sich auch eine größere Forschungsdichte in den Regionen des heutigen Sachsen annehmen, in denen bis 1938 viele Menschen lebten, die dann als Juden verfolgt waren.

Lokale Forschungsschwerpunkte

So sind insbesondere die Geschichten jener Städte, in denen jüdische Gemeinden bestanden, relativ gut erforscht. Für einzelne sächsische Regionen, wie das Vogtland, den Chemnitzer Raum oder die Oberlausitz haben sich darüber hinaus einzelne Forscher oder Forschergruppen mit der Geschichte von als Juden verfolgten Menschen intensiv beschäftigt. Dadurch sind auch für kleinere Städte Pogromereignisse bekannt geworden.

Die Verteilung der Pogromgewalt in Sachsen (1): Bevölkerungsdichte

Die Karte zu den Novemberpogromen von 1938 auf dem Gebiet des heutigen Sachsen zeigt eine Konzentration der Gewalt und Verhaftungen auf den südwestsächsischen Raum. Abgesehen von den Orten mit jüdischen Gemeinden ließen sich bislang für Nord- und Ostsachsen deutlich weniger Hinweise zu lokalen Pogromen finden.

Bevölkerungsdichte

Hauptgrund für die räumliche Verteilung dürfte tatsächlich die Bevölkerungsdichte des damaligen Sachsen sein. Die meisten Menschen außerhalb der Großstädte lebten im stark industrialisierten Raum um Chemnitz. In diesen Gebieten ließen sich etwa ab der Gründung des Kaiserreichs auch zahlreiche jüdische oder von Juden abstammende Händler und Kaufleute nieder.

Sofern diese im Herbst 1938 nicht schon in die größeren Städte übergesiedelt oder ins Ausland emigriert waren, traf sie auch in den kleineren Orten die Wucht der Pogrome.

Eine Karte zur Bevölkerungsdichte findet sich unter: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Lange_diercke_sachsen_freistaat_sachsen_volksdichte.jpg

Konfessions-, Voll-, Halb- und Vierteljuden: Statistische Erhebungen durch das nationalsozialistische Regime

Nach 1933 ist es in vielen Fällen extrem schwer, genaue Zahlen über die in den einzelnen sächsischen Orten lebenden und als Juden verfolgten Menschen zu erhalten. Dies lag einerseits daran, dass durch Migration im Inland – den Wegzug aus den kleineren Orten in die mutmaßlich größere Anonymität der Großstädte – und ins Ausland zu erheblichen Fluktuationen kam. Andererseits muss immer genau beachtete werden, auf welcher Zahlen- und Definitionsgrundlage die ‚Juden‘ erfasst wurden.

Statistische Zahlen von 1937

Der Sicherheitsdienst der SS erstellte 1937 eine Statistik über die im Deutschen Reich als Juden verfolgten Menschen: Nach ihren Schätzungen lebten im Juni 1937 noch 392.000 Konfessionsjuden in Deutschland. Etwa 107.000 seien seit 1933 ausgewandert. Die Gesamtzahl, so die Notiz des Referatsleiters Herbert Hagen, erhöhe sich nach Schätzungen des Direktors des Statistischen Reichsamts um weitere 120.000 ‚Volljuden‘ nichtjüdischen Bekenntnisses sowie etwa 160.000 ‚Halb-‚ und ‚Vierteljuden‘.

Der SD ging im Sommer 1937 also von etwa 672.000 Menschen im Deutschen Reich aus, die vollkommen ausgegrenzt und zur Auswanderung gedrängt werden sollten.

Die Notiz Hagens ist auszugsweise ediert bei: Pätzold, Kurt (Hg.): Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, 4. Aufl., Leipzig 1991, S. 140 f.

Das Gustloff-Attentat 1936 (3): Pressepropaganda im November 1938

Nach dem Pariser Attentat von 1938 konnte die nationalsozialistische Propaganda nun endlich auch das Gustloff-Attentat in der Schweiz nutzen. Eine Anweisung des Deutschen Nachrichtenbüros vom 7. November 1938 wies ausdrücklich darauf hin, auf den Fall Gustloff Bezug zu nehmen und Verbindungslinien zu behaupten.

Die sächsische Presse

In Sachsen nahmen nicht nur die Redner auf antisemitischen Hetzkundgebungen Bezug auf Gustloff, wie der Dresdner Kreisleiter der NSDAP Hellmuth Walter. Auch in den Zeitungen finden sich Bezugnahmen, wie etwa im ‚Oelsnitzer Volksboten‘ vom 8. November. Dort hieß es nach dem Grynszpan-Attentat unter anderem drohend: „Abgesehen davon, daß dieser Ueberfall Paris zu erkennen gibt, wie gefährlich es ist, wenn es dem Treiben der jüdischen Emigranten geduldig zusieht und keine ernsten Schritte dagegen unternimmt, sehen wir Deutsche in diesem frechen und feigen Ueberfall auf deutschem Boden in Paris einen neuen Fall Gustloff, der die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muß, und zwar auch für die ausländischen Juden in Deutschland.“

Das Gustloff-Attentat 1936 (2) Joseph Goebbels

Im Gegensatz zu den Anweisungen des Reichsinnenministeriums, Einzelaktionen zu unterbinden, stand Goebbels 1936 auf verlorenem Posten: Angesichts des Gustloff-Attentats regte er bereits damals antisemitische Maßnahmen an, konnte sich damit allerdings nicht durchsetzen.

Goebbels als Initiator der Pogrome von 1938

1938 hingegen hielt Goebbels das Heft des Handels fest in der Hand: Er überzeugte nicht nur Hitler, sondern initiierte mit seiner Rede von der in München versammelten Parteiprominenz die antisemitische Gewalt höchstpersönlich mit.

Das Gustloff-Attentat 1936 (1): Verhütung von ‚Einzelaktionen‘

Am 4. Februar 1936 wurde der Schweizer Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation Wilhelm Gustloff von dem jüdischen Studenten David Frankfurter in seiner Wohnung erschossen (Gustloff-Affäre). Das Attentat wurde nach dem Grynszpan-Attentat in Paris immer wieder als Beleg für eine ‚jüdische Verschwörung‘ gegen das Deutsche Reich herangezogen.

Keine Aktionen 1936

Im Unterschied zu 1938, als nach dem Tod Ernst vom Raths die Pogromgewalt über die als Juden verfolgten Menschen hereinbrach, blieb es 1936 ziemlich ruhig: Das Innenministerium ordnete am Folgetag an, dass Gewaltaktionen zu unterbleiben hätten. So hieß es:

„Unter Bezugnahme auf meinen Erlass zur Verhinderung von Ausschreitungen vom 20.8.1935 ordne ich im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers Rudolf Hess an, dass Einzelaktionen gegen Juden aus Anlass der Ermordung des Leiters der Landesgruppe Schweiz der NSDAP Wilhelm Gustloff in Davos unbedingt zu unterbleiben haben. Ich ersuche gegen etwaige Aktionen vorzugehen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten“ (zit. nach: Pätzold, Kurt (Hg.): Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, 4. Aufl., Leipzig 1991, S. 125).

Stillhalten angesichts der Olympischen Winterspiele

Das Attentat geschah zur Unzeit: Am 6. Februar 1936 wurden in Garmisch-Patenkirchen die Olympischen Winterspiele eröffnet. Eine antisemitische Reaktion und öffentliche Gewalt hätten das internationale Ansehen Deutschlands in der Welt beschädigt.

Steinernes Gedenken (8): Ein Gedenktafel in Zittau

Auch in Zittau wurde im Erinnerungsjahr 1988, in dem sich die Pogrome zum 50. Mal jährten, die Anbringung einer Gedenktafel durch die örtliche Friedensgruppe initiiert.

Eine Tafel an der Einfahrt zum ehemaligen Synagogengrundstück

Die Tafel, die am 1. September 1989 eingeweiht wurde, befindet sich an der Einfahrt zum ehemaligen Synagogengrundstück in der Lessingstraße. Sie ist heute ein zentraler Ort für die Durchführung der Gedenkzeremonien am 9. November.

Inschrift

Im Hintergrund die-
ses Grundstückes
stand bis zum 9. No-
vember 1938 die Syn-
agoge der Jüdischen
Gemeinde Zittau. Sie
wurde an diesem Tag völlig zerstört.
Wir gedenken aller
jüdischen Menschen,
die Opfer des Faschis-
mus wurden. 1989

Mehr hierzu über die Homepage der Hillerschen Villa in Zittau unter: http://www.hillerschevilla.de/cms/de/363/Geschichte-der-Juden-in-Zittau