Tag Archives: Kristallnacht

Eine neue Gedenktafel für die Dresdner Synagoge

Am 21. Juni 2018 enthüllt der Gottfried-Semper-Club Dresden e.V. eine sogenannte Bauwerkstafel an der Neuen Synagoge in Dresden. Die Tafel erinnert vor allem an die dann auf den Tag genau 180 Jahre vorher erfolgte Grundsteinlegung, die Weihe und die architektonischen Besonderheiten des Gotteshauses.

Bezug auf den Pogrom in Dresden

Zumindest kurz wird auch in Erinnerung gerufen, dass das Gebäude am 9./10. November 1938 zerstört wurde.

Mit der Stele am Hasenberg und dem zwischen Neuer Synagoge und Gemeindezentrum durch ein Metallband eingelassenen Grundriss der alten Sempersynagoge erinnern nunmehr allein drei Gedenkobjekte vor Ort an das zerstörte Gotteshaus.

Mehr Informationen zur Bauwerkstafel unter: http://www.gottfriedsemperclub.de/news/180621%20180%20jahre%20Grundsteinlegung%20Semper-Synagoge%20.pdf

 

 

Der erste Tote der Pogrome: Robert Weinstein

In Sachsen sind bislang drei Fälle nachweisbar, in denen Menschen in direkter Folge der Pogromgewalt des 9./10. November 1938 zu Tote kamen, also Opfer von Mord oder Totschlag wurden. Sie waren allerdings nicht die ersten Toten einer Welle der Pogromgewalt, die bereits nach dem Attentat auf den deutschen Gesandten vom Rath in einzelnen Gebieten des Deutschen Reichs ausbrachen.

Robert Weinstein in Felsberg

Im Hessischen kam es bereits ab dem 7. November 1938 zu massiven Pogromausschreitungen. Im kleinen Örtchen Felsberg wurde nicht nur die Synagoge zerstört und als Juden verfolgte Menschen drangsaliert. Es traf auch den herzkranken, 1883 geborenen Kaufmann Robert Weinstein. Er starb am 8. November infolge von Drangsalierungen und Gewalt auf der Straße an einem Herzanfall – den Umständen folgend ein Totschlagdelikt.

Weinstein war vermutlich das erste Todesopfer der Pogromwelle, die ab dem 9./10. November 1938 mehrere Hundert weitere Tote fordern sollte.

2013 wurde ein Platz in Felsberg nach Weinstein benannt.

Zur Biografie und zum Schicksal Weinsteins siehe: Schilde, Kurt: Frühe Novemberpogrome 1938 und das erste Opfer Robert Weinstein, Berlin 2016.

Denunziationen (2): Toni Bitterlich in Bermsgrün

Zu den Menschen, die nach den Pogromen wegen judenfreundlicher Äußerungen und Pogromkritik angezeigt wurden, gehörte auch die 1911 in Bermsgrün geborene Toni Bitterlich. Das Ehepaar hatte einen kommunistischen Hintergrund; Toni Bitterlich sah wegen mutmaßlichen Hochverrats 1934 bereits ein halbes Jahr in Untersuchungshaft.

Kritik an der ‚Judenaktion‘

Bitterlich arbeitete als Stanzerin in der Beierfelder Lampenfabrik Hermann Nier. Dort sprach sie mit der Hilfsarbeiterin Elfriede Möckel. Sie äußerte dabei, „daß den Juden Unrecht geschehen sei, da diese sich doch ganz anständig aufführten. die Juden seien auch anständige Menschen.“ Außerdem äußerte sie sich zu sozialen Einrichtungen für Arbeiter in der Sowjetunion.

Bitterlichs Aussagen führen zur Untersuchung durch die Gestapo-Stelle in Plauen im Mai 1939. Bitterlich räumte dabei ein: „Es ist richtig, daß ich die Judenaktion damals nicht gutgeheißen habe. Ich habe den Sinn dieser Sache damals noch nicht verstanden. Heute sehe ich ein, daß richtig gehandelt worden ist.“ Die Aussage und auch das Eingeständnis, die ‚Judenaktion‘ für gut zu befinden, ist vor dem Hintergrund des drohenden Verfahrens zu sehen und entsprechend zu hinterfragen.

Einstellung des Verfahrens

Die schließlich mit dem Fall betraute Oberstaatsanwaltschaft des Sondergerichts in Freiberg untersuchte in erster Linie den Verdacht der kommunistischen Mundpropaganda. Die Vorwürfe wegen judenfreundlicher Äußerungen wertete der Staatsanwalt vor allem mit Blick auf die angeblich „spontanen Kundgebungen“ des Volkes und nicht als gegen Staat oder NSDAP gerichtet. Die Anwendung des Heimtückegesetzes kam deshalb nicht in Betracht. Ende September 1939 ordnete die Staatsanwaltschaft an, keine Strafverfolgung einzuleiten, die Denunzierte allerdings eindringlich zu verwarnen.

Die entsprechende Sondergerichtsakte ist im Hauptstaatsarchiv in Dresden überliefert.

Verhaftet in Pirna (2)

Am 9. November 1938 beschlagnahmten Polizisten in Pirna bei dem Chemiefabrikanten Manfred Heß eine Pistole und mehrere Schuss Munition. Zur Abgabe weiterer Waffen aufgefordert, gab Heß noch zwei Seitengewehre und weitere Patronen ab, zeigte außerdem den Besitz von Jagdwaffen an.

Die Festnahme des Fabrikanten

Einen Tag später, am 10. November 1938, wurde Hess festgenommen. Er wurde über Dresden ins Konzentrationslager Buchenwald transportiert. Von dort wurde er am 29. November 1938 wieder entlassen. Nach der Festnahme demolierten SA-Täter das Wohnhaus der Familie im Postweg 64, wo sich auch die verängstigte Familie versteckte.

Die Festnahme von Bruno Freymann

Ebenfalls am 10. November festgenommen, aber wieder freigelassen, wurde auch der Kaufmann Bruno Freymann.

Ausführlich zur Geschichte der in Pirna als Juden Verfolgten: Jensch, Hugo, Juden in Pirna, Pirna 1996, hier S. 34 f.; Digitales Dokumentations- und Erinnerungsprojekt des AKuBiZ e.V. aus Pirna, online unter https://gedenkplaetze.info/.

Verhaftet in Pirna (1)

Am 12. November 1938 wurden in Pirna die Kaufmänner Wolf Jurmann und Alfred Cohn sowie der Arbeiter Ernst Noack auf Befehl der Gestapo in Dresden festgenommen. Alle drei Männer wurden nach Dresden überstellt und dann ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.

Digitales Gedenkprojekt

Ein digitales Dokumentations- und Erinnerungsprojekt des AKuBiZ e.V. aus Pirna unter https://gedenkplaetze.info/ macht diese und zahlreiche weitere Biografien zugänglich.

Zu Noack, der 1897 geboren wurde, erfährt man, dass bei ihm bereits am 11. November 1938 eine Hausdurchsuchung stattfand – allerdings ohne Erfolg. Aus dem Konzentrationslager Buchenwald wurde er am 8. Dezember 1938 entlassen.

Mit Noack wurde auch der 1886 geborene Kaufmann Alfred Cohn entlassen, nachdem dessen Ehefrau am 1. Dezember 1938 die Ausreise nach Brasilien beantragt hatte.

Der 1898 geborene Wolf Jurmann dagegen wurde erst am 14. Januar 1939 aus der ‚Schutzhaft‘ entlassen, nachdem er sein Geschäft aufgegeben und seine Warenbestände, Immobilien und Finanzen mittels eines dazu bestellten Rechtsanwalt liquidiert hatte.

Ausführlich zur Geschichte der in Pirna als Juden Verfolgten: Jensch, Hugo, Juden in Pirna, Pirna 1996.

 

Dresden – Berichte von Augenzeugen (7): Walter Feurich und der SA-Lehrer

Zu den Augenzeugen der Dresdner Pogromereignisse gehörte auch der 16-jährige geborene Walter Feurich (1922-1981). Er war 1938 in der Bekennenden Kirche engagiert und besuchte noch die Schule.

Der SA-Lehrer

An den 10. November 1938 erinnerte er sich später so:

„Auch in Dresden brannte die Synagoge. Mit einigen Freunden war ich zum Brühlschen Garten gelaufen, um mich durch Augenschein von diesem schrecklichen Ereignis zu überzeugen. Einer meiner Kameraden gab ziemlich laut seinem Unwillen Ausdruck. Er wurde sofort denunziert und anschließend in das nahe gelegene Polizeipräsidium überführt. Jetzt sahen wir etwas klarer, und einige meiner Klassenkameraden empörten sich mit mir, als am anderen Tage unser Klassenlehrer, bei dem wir Deutsch- und Geschichtsunterricht hatten, sich vor der Klasse brüstete, daß auch er als SA-Mann bei den Judenpogromen dabeigewesen sei. Die Ausschreitungen bezeichnete er als ‚gesunde Reaktion des Volkes‘! Dieser Mann war vor 1933 der Klasse als Demokrat und Anhänger der Staatspartei bekannt gewesen. Wie viele andere in unserem Volke hatte er sich in der Zwischenzeit sehr gewandelt“ (Feurich, Walter: Schon auf der Schulbank konnte man’s begreifen, in: Fink, Heinrich (Hg.): Stärker als die Angst. Den sechs Millionen, die keinen Retter fanden, Berlin 1968, S. 76–79, hier S. 76 f.).

Feurich engagierte sich auch für als Juden verfolgte Christen. Er stand mit Martin Richter, dem Dresdner Vertreter des Büros Grüber in Kontakt.

Steinernes Gedenken (9): Ein Gedenktafel in Löbau

In Erinnerung an den Pogrom wurde auch in Löbau ein Gedenkstein in Form einer Menora am Promenandenring errichtet.

Die Weihe der Stele erfolgte 1988 im Kontext der offiziellen Gedenkveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestags der Novemberpogrome. Sie ist heute Ort des jährlichen Pogromgedenkens.

Inschrift

Die Inschrift des Stein lautet:

„9. November
1938
Gedenke
Vergiss nie“

Eine Fotografie findet sich unter: http://www.loebaufoto.de/denkmal11.htm

Pogromereignisse in Löbau

Am 10. November 1938 war es im benachbarten Georgewitz zu einer antisemitischen Kundgebung und zur Festnahme von als Juden verfolgten Männern gekommen.

Dresden – Berichte von Augenzeugen (6): Ilse Frischmann

Zu den Augenzeugen, die in Dresden selbst als Jüdin verfolgt wurde, zählte auch Ilse Frischmann. Die auch durch ihre Bergsteigerleidenschaft bekannte Frischmann lebte mit ihren Eltern in der Markgrafenstraße in der Dresdner Neustadt.

Pogromübergriffe gegen kleine Geschäftsinhaber

Später erinnerte sich Frischmann wie folgt:

„Wir wohnten damals in der Markgrafenstraße, Ecke Louisenstraße. Meine Mutter hatte einen kleinen Laden mit Tabakwaren und Briefmarken. Untern im Haus war unser Laden, aber unsere Wohnung war im dritten Stock, mit Küche, Schlafzimmer und meinem Zimmer. […]. In unserem Haus wohnte ein Gestapomann, Köhler, der uns das Leben schwer machte. Er brachte eines Tages an und in unserem Haus gelbe Schilder an mit der Warnung, wir, die Frischmanns, seien Juden und wer mit uns verkehrt, sei ein Staatsfeind.

In der Nacht des 9. November 1938 kamen SA-Männer mit Lastwagen und Fackeln laut grölend durch unsere Straße. Wir standen am Fenster, hinter den Gardinen, und sahen, wie sie das Textilgeschäft von Natowitz verwüsteten. Dann splitterten in unserem Haus unten die Scheiben“ (abgedruckt in: Stellmacher, Hildegard (Red.): Juden in Sachsen. Ihr Leben und Leiden, Berlin 1994, S. 96).

Nicht nur das Geschäft der Mutter war in der Neustadt betroffen, sondern auch das von Ignatz Natowitz auf der Louisenstraße 55.

Plauen – Berichte von Augenzeugen (2): Siegfried Gentsch

Auch Siegfried Gentsch erlebte die Pogromgewalt in Plauen, die er in seinen 1999 erschienenen Kindheitserinnerungen niederschrieb (Gentsch, Siegfried: Meine Kindheit im tausendjährigen Reich. Ein Plauener berichtet aus seinem Leben, Berlin 1999).

Geschäftszerstörungen

Gentsch erinnerte:

„Ein weiteres spontanes, aber dafür um so tiefgründigeres Erlebnis hinterließ bei mir im Jahre 1938 die Reichskristallnacht, wo gerade diese Uniformierten Fenster einwarfen, Läden zerstörten sowie Menschen verschleppten oder fast zu Tode prügelten – und die Polizei sah tatenlos zu oder war überhaupt nicht präsent. Daß es sich bei den betroffenen Personen um Juden handelte, dafür besaß ich als Steppke kein Verständnis; für mich waren es Menschen, denen Böses geschah, denen man eigentlich helfen müßte. Für mich tat sich in diesem Zusammenhang ein tiefer Widerspruch auf. Nämlich der, wenn wir als Kinder eine Fensterscheibe einschlugen oder ein kleineres Kind verprügelten, dann war die Polizei sofort präsent, bestrafte uns und wir bekamen obendrein vom Vater noch Maulschellen. Aber in diesem Falle durften erwachsene Uniformierte all solches tun; ja, sie erhielten von einer nicht geringen Anzahl an Zuschauern Beifall und wurden teilweise sogar aufgefordert, noch härter durchzugreifen. Meinen Vater, der mit diesem pöbelhaften Vorgehen der SA, SS und der Hitlerjugend sicher nicht einverstanden war, erlebte ich das erste Mal sprachlos. Er gab mir auf meine Fragen keine Antwort und versuchte ständig, das Gespräch in eine andere Richtung zu drängen. Meine Mutter erklärte sich mit dem Vorgehen ihrer Parteigenossen nicht einverstanden, denn als sanftmütiger Mensch verabscheute sie gewaltsames Vorgehen gegen Menschen. In ihrer Ratlosigkeit versuchte sie mich und sich selbst mit der Annahme zu beruhigen, daß diese Ausschreitungen offensichtlich nur die Handlung einzelner seien, die vom Führer sicher dafür bestraft würden. us der heutigen Sicht ist eine solche Naivität nahezu erschreckend. Aber es gab eine Reihe anderer, die ebenso dachten und damit ihr eigenes Gewissen beruhigen wollten. In welche Gewissenskonflikte solche Menschen einige Jahre später kommen sollten, kann man nur ahnen“ (S. 13 f.).

Gentsch war im November 1938 gerade einmal sechs Jahre. Er starb 2003 in Plauen.

Plauen – Berichte von Augenzeugen (1): Joachim Frotscher

1938 war Joachim Frotscher in Plauen gerade einmal elf Jahre, als er den Brand der Synagoge erlebte. Besonders beschäftigte Frotscher, der in einer adventistischen Familie aufwuchs, dass seine Gemeinde nicht einmal ein Wort der Anteilnahme gegenüber den als Juden Verfolgten gezeigt habe.

Ich schäme mich dafür

In einem Interview äußerte er sich Anfang 2003 wie folgt:

„Auch unsere Familie schwieg. Wie konnte es sein, dass sich niemand in unserer Gemeinde, nicht ein einziger, darüber empörte? Wir sahen die Synagoge brennen, aber ich hörte kein Wort des Mitleids oder der Anteilnahme aus dem Mund meiner Eltern. Man nahm die Ereignisse zur Kenntnis – es sprach sich schnell herum, dass die SA den Brand gelegt hatte – und schob den Juden die Schuld zu. Sie wären für ihr Unglück selbst verantwortlich. Sie hätten doch in Jerusalem gerufen: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.‘ Nun müssten sie die Folgen ihrer Einstellung tragen […] Was mich bis heute besonders bedrückt hat, ist die Tatsache, dass wir als Adventgemeinde in Plauen in dieser bitteren Stunde einfach nur schwiegen und wegschauten. Dieses ‚Warum‘ quält mich. Ich schäme mich dafür“ (zitiert in: Heinz, Daniel: Missionarische Offenheit in der Welt, ideologische Anpassung in Deutschland: Siebenten-Tags-Adventisten und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Heinz, Daniel (Hg.): Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld, Göttingen 2011, S. 281–308, hier S. 296).

Auf dem ehemaligen Synagogengrundstück steht heute die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Plauen.