Zu den frühesten literarischen Werken, die die Pogromereignisse in Deutschland verarbeiten, zählt Ulrich Alexander Boschwitzs Roman ‚Der Reisende‘, der zuerst 1939 in England (‚The man who took the trains‘, unter Pseudonym John Grane), 1940 in den USA (‚The Fugitive‘) und erst 2018 in deutscher Sprache erschien. Eine französische Übersetzung erschien 1945 in Frankreich (‚Le fugitif‘, unter Pseudonym John Grane).
Inhalt: Eine Fluchtodyssee
Der Roman schildert mit vielen Details das Leben des Berliner Kaufmanns Otto Silbermann in den Tagen ab dem 10. November 1938. Nach der Zerstörung seiner Wohnung flieht Silbermann mit dem Zug durch das Deutsche Reich. Er trifft andere Verfolgte, glühende Verehrer des Nationalsozialismus, Menschen die sich seines Schicksals annehmen, scheitert mit einem versuchten illegalen Grenzübertritt nach Belgien, wird von seinem ‚arischen‘ Geschäftspartner hintergangen und verliert schließlich auch noch 36.000 Reichsmark, die ihm während seiner letzten Zugfahrt gestohlen werden.
Die unzähligen Bahnfahrten bringen den ‚Reisenden‘ schließlich zu dem Schluss: „Ich bin in die Deutsche Reichsbahn integriert“ (S. 174). Der Roman endet mit der Verhaftung Silbermanns. Andeutungen im Verlauf des Buches lassen erahnen, dass dem Festgenommenen nunmehr die Verschleppung ins Konzentrationslager und körperliche Gewalt drohen.
Die Themen und Szenen des Romans spiegeln auch eine Auseinandersetzung Boschwitzs mit seinen eigenen Lebenserfahrungen wider: Der 1915 geborene Autor floh 1935 zunächst nach Schweden und ging 1939 nach England. 1942 starb er, als ein von der britischen Regierung gechartertes Passagierschiff vor den Azoren von einem deutschen U-Boot versenkt wurde.
Eine Sammlung persönlicher Unterlagen Boschwitz‘ verwahrt das Leo Baeck Institute; das deutsche Typoskript seines Romans liegt in der Deutschen Exilbibliothek der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main.
Der sächsische Bezug: Dresden
Auch, wenn sich der Großteil der Romanhandlung auf andere Orte und insbesondere auch die Zugreisen Silbermanns bezieht, so nimmt das Buch auf Sachsen Bezug: Der Reisende gelangt bei seiner vorletzten Zugfahrt von Berlin nach Dresden, wo er einen Schwächeanfall erleidet und in ein Krankenhaus gebracht wird, aus dem er sich als ‚Jude‘ schnell wieder zu entfernen sucht. Er fährt auf den Weißen Hirsch und lässt den Blick über die Stadt schweifen, um sich schließlich zur Rückkehr in seine Wohnung nach Berlin zu entscheiden. Auf dieser Fahrt wird ihm sein mitgeführtes Geld gestohlen und die Verzweiflung des Verfolgten auf den Höhepunkt gesteigert.
Zum Lesen: Boschwitz, Ulrich Alexander: Der Reisende, Stuttgart 2018.
Für den Hinweis auf das Buch danke ich Benjamin Rosenkranz.