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Ein Foto und seine Geschichte (2): Die Ruine der Chemnitzer Synagoge auf einem unscharfen Foto

Von der Chemnitzer Synagogenruine existiert ein Foto, das den Bau nach der Sprengung der Kuppel zeigt, wohl am Nachmittag des 10. November. Die schiefe und unscharfe Aufnahme, die von der Straße aus aufgenommen wurde und schemenhaft auch Menschen zeigt, hat eine besondere Geschichte.

Zeugen der Pogrome

Sie stammt aus dem Besitz von Georg Simon (1924–2011), der sich in Chemnitz selbst der Verfolgung als Jude ausgesetzt sah und später nach Dänemark emigrierte. 1937 hatte Simon noch seine Bar Mitzwa in der 1899 geweihten Synagoge gefeiert. Sein Vater, der in der Synagoge das Ehrenamt eines Gabbai (Synagogendiener) ausübte, sei nach Hause zurückgekehrt und habe von dem Brand des Gebäudes berichtet, ehe er sich versteckte, um der Festnahme zu entgehen. Letzteres traf Simons Onkel Oscar, der, so Simon, verhaftet worden und ins Konzentrationslager Dachau gekommen sei.

Vom Fahrrad aus aufgenommen

Simon schrieb in einem Erinnerungsbericht von 2002 auch über die Geschichte seines Fotos: Er sei mit dem Rad an der Ruine vorbeigefahren und habe mit der unter der Jacke befindlichen Kamera die Aufnahme geschossen. Diese ist deshalb auch insofern etwas besonderes, als dass einer der Verfolgten selbst die Zerstörung dokumentierte und das Negativ über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus bewahren konnte

Die Aufnahme ist abgedruckt in: Nitsche, Jürgen; Röcher, Ruth (Hg.): Juden in Chemnitz. Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder, Dresden 2002, S. 155.

Simons Erinnerungsbericht erschien erstmals in Jødisk Orientering (2002), Nr. 8.

Ein Foto und seine Geschichte (1): Einführende Bemerkung zu Bild- und Filmquellen

Inzwischen konnte ich im Rahmen meiner Recherchen für das Projekt BRUCH|STÜCKE fast sechzig verschiedene Fotografien und einen Film zusammentragen, die die sächsischen Pogromereignisse im Bild festgehalten haben. Viele dieser Aufnahmen sind in den lokalen Einzeldarstellungen zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung zum Abdruck gekommen und zumindest in Teilen sind diese Fotografien als historische Quellen schon genauer in den Blick genommen worden.

Die Fotografie als historische Quelle zu den Pogromen

Einige dieser Fotografien sollen in mehreren Beiträgen nicht nur hinsichtlich ihrer Funktion als Bildmaterial über Pogromgewalt und -folgen, sondern als historische Quellen vorgestellt werden. Wie in einem alten privaten Fotoalbum, in dem man den Namen und Biografien der Abgebildeten sowie den festgehaltenen Ereignissen nachgeht, sollen die Inhalte, Urheber, Perspektiven und Überlieferungsgeschichten genauer in den Blick genommen werden. Dabei finden sich Fotografien der Täter und Zuschauer ebenso, wie solche von Menschen, die von der Pogromgewalt betroffen waren.

Versteckte und vergessene Bildquellen im privaten Besitz

Noch heute, das haben meine bisherigen Recherchen gezeigt, finden sich Fotografien zu den Pogromen im privaten Besitz. Gleichwohl ist es gar nicht so einfach, an dieses Material heranzukommen: Einerseits wissen die Besitzer – heute meist die Nachfahren der (Hobby-)Fotografen von 1938 – oftmals nicht, was für Fotografien sie da in ihrem Besitz haben. Andererseits scheuen Familien, deren Vorfahren vielleicht gar selbst als Pogromtäter aktiv waren, meist die Öffentlichkeit oder stimmen im besten Fall einer Verwendung von Aufnahmen unter Maßgabe der Wahrung der Anonymität zu.

Aufrufe an die Zeitzeugengeneration selbst erreichen heute meist nur noch über den persönlichen Kontakt ihr Ziel, weil diese – sofern sie nicht schon verstorben sind – die Mühen einer Rückmeldung auf öffentliche Aufrufe aus nachvollziehbaren Altersgründen in vielen Fällen nicht mehr auf sich nehmen wollen oder können.

Und doch gibt es sie noch immer, die wieder aufgetauchten, bislang unbekannten Aufnahmen, die unser Bild von den Pogromen noch einmal auf eine neue Quellengrundlage stellen.

Bildabdruck: Rechtliche und Lizenzfragen

Leider ist es aus rechtlichen Gründen nicht möglich, in die hier vorgestellte Beiträge einfach so die vorhandenen und neu entdeckten Bild- und Filmquellen einzubauen. Gerade im Medium des Internets, wo Bilder mit wenigen Klicks kopiert und anderweitig verwendet werden können, ist dies eine besondere Problematik. Dies gilt umso mehr für jene Aufnahmen aus dem Besitz von Privatpersonen, die nicht immer einer Veröffentlichung zustimmen, in jedem Falle aber gefragt werden müssen. Ich werde deshalb, sofern die von mir besprochenen Aufnahmen bereits publiziert sind, auf die entsprechenden Stellen in der Literatur hinweisen und versuchen, eine Beschreibung des Abgebildeten zu geben.

Ausnahmen, bei denen ich hier Bildquellen wiedergebe, stellen jene Fälle dar, in denen ich in seltenen Fällen Aufnahmen selbst reproduzieren, die ausdrückliche Genehmigung erhalten oder bereits eine Lizenz erwerben konnte. In beiden Fällen sei den Rechteinhabern bereits an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt.

Ein Kaufhaus in Borna

In Borna war unter anderem das Kaufhaus Britania der Familie Rose (Foto mit Berta Rose vor dem Kaufhaus) Ziel der Angriffe der nationalsozialistischen Pogromtäter.

Brandstiftung in Borna

Das Kaufhaus Rose wurde am 10. November 1938 in Brand gesteckt, Schaufenster und Lagerräume brannten – ein einziges Foto zeigt das zerstörte Gebäude bereits mit Brettern vor den zerstörten Schaufenstern. Die Feuerlöschpolizei hatte mit 78 Feuerwehrleuten bis in den Morgen des Folgetags gelöscht.

Siegfried Rose aus Leipzig

Auch Siegfried (später: Frederic) Rose, wurde verhaftet. Er hatte unter anderem den Brand des Kaufhauses Bamberger & Hertz in Leipzig gesehen. Sein Vater Abraham wurde ins Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Er selbst sei aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen dann über eine Einwanderungserlaubnis der Quäker nach England gekommen. Auch seine Schwester emigrierte. Die Eltern kamen während des Holocausts um. Später wanderte Rose nach Kanada aus. In Borna erinnern heute Stolpersteine an das Schicksal der Familie.

Motulsky und Singer

Das Kaufhaus Britania war nicht das einzige, das während der Pogrome in Borna angegriffen wurde: Auch bei den Geschäften der Familien Motulsky und Singer wurden die Schaufenster eingeschlagen.

Zur Siegfried Rose siehe u. a.: Urban, Elke (Red ).: Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen, Leipzig 2011, S. 137-142.

Synagogenzerstörung und Luftangriffe: Eine Postkarte in Dresden

Oft wurden die Zerstörungen der Synagogen 1938 und die sächsischer Städte in den letzten Kriegsmonaten nach 1945 in eine gedankliche Verbindungslinie gesetzt: Der Brand der Synagoge, so der Tenor, sei gleichsam das Zeichen dafür gewesen, was insbesondere Dresden und Chemnitz 1945 mit den schweren Luftangriffen erlebten.

Synagogenzerstörung 1945?

An manchen Stellen verschwammen die historischen Fakten: Der VEB Foto-Verlag Erlbach im Vogtland brachte 3 Serien mit Fotopostkarten zur Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945 heraus. Eine Karte der dritten Serie zeigte auch die Semper-Synagoge – die allerdings bereits 1938 während der Pogrome zerstört worden war.

Der Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR und die Jüdische Gemeinde Dresden machten den Verlag im März 1980 auf den Fehler aufmerksam, der entsprechend korrigiert wurde. 1985 wies dann nochmals Adolf Diamant in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung darauf hin (ausführlicher dazu das Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR (1986), 3, S. 16 f., das auch einen Konflikt zwischen dem Verband und Diamant in der Sache offenbarte).

Synagogenbesuch und Erinnerung: Der Dresdner Bezirkskatechet Hofmann

Ab den 1970er-Jahren besuchten vermehrt kirchliche Gruppen die Dresdner Synagoge an der Fiedlerstraße und ließen sich in die Besonderheiten des Judentums wie die Geschichte der Dresdner Jüdischen Gemeinde einführen.

Besuch und Erinnerung

1983 kam so auch der Dresdner Bezirkskatechet M. Hofmann mit der Jüdischen Gemeinde in Kontakt, die er mit mehreren Ehepaaren besuchte. Hofmann erinnerte sich in diesem Zusammenhang auch seiner eigenen Erlebnisse mit der Pogromgewalt in Dresden, die er in seinem Dankschreiben an die Jüdische Gemeinde darlegte. Das Schreiben kam im Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinde in der DDR zum Abdruck.

Darin heißt es:

„Am Morgen nach dieser unseligen Pogromnacht hatte sich unter uns Schülern der damaligen Neustädter Oberrealschule die Nachricht vom Brande des ehrwürdigen jüdischen Gotteshauses schnell verbreitet. Nach dem Unterricht gingen mein Freund und ich über die Carolabrücke und standen betroffen vor den rauchgeschwärzten Mauerresten: für den kleinen Quartaner waren es die ersten Trümmer in Dresden, die sich ihm als Zeichen der Gefährdung des Lebens, der Verfolgung, des Rassenwahns und der Intoleranz unauslöschlich eingeprägt haben. Angesichts dieses schrecklichen Brandmals empfand das Kind wohl zum ersten Male in seinem Leben eine tiefe Angst vor der Kälte des menschlichen Herzens. Inzwischen sind dreiundvierzig Jahre verstrichen, und vieles ist in dieser langen Zeit von der sich ständig verjüngenden Gegenwart verdeckt worden, [sic!] Dem Manne, der auch dem kleinen Quartaner herausgewachsen ist, blieb eine wichtige Erkenntnis: Diese erste Ruine in Dresden steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit den Trümmerwüsten der Heimatstadt späterer Jahre. Aus dem Glauben an Gott hat ihm die unverrückbare Wahrheit dieser Entdeckung zu einer Antwort verholfen, die sich in der lapidaren Grundorientierung artikuliert: Verantwortlichkeit des einzelnen!“ (Hofmann, M.: [Bericht vom Besuch der Dresdner Synagoge], in: Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik (1983), 3, S. 14).

Pogrom und Luftangriff

In seinen Erinnerungen zog auch Hofmann einen Verbindungslinie von der Synagogenzerstörung von 1938 und den Luftangriffen von 1945. Die Synagoge sei gleichsam die erste Ruine der Stadt gewesen, die Vorwegnahme der Zerstörung. Dieses Narrativ findet sich immer wieder bei Zeitzeugengesprächen und in autobiografischen Schriften von Personen, die beides, 1938 und 1945, erlebten.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (6): Die Brandstiftung

Die erste ausführliche Gesamtdarstellung zur Geschichte der Juden in Chemnitz beziehungsweise Karl-Marx-Stadt publiziert 1970 Adolf Diamant. Diamant, der 1924 in Chemnitz geboren wurde, musste 1938 die Schule verlassen. Er überlebte das Ghetto Lodz, Auschwitz und die Zwangsarbeit. Nach dem Krieg beschäftigte er sich intensiv mit der Geschichte der sächsischen jüdischen Gemeinden. Ab Mitte der 1950er-Jahre lebte er in Frankfurt an Main.

Die Zerstörung der Chemnitzer Synagoge

Akribisch sammelte Diamant auch Material zur Chemnitzer Jüdischen Gemeinde und befragte Zeitzeugen. Einen der von ihm gesammelten Berichte zu der Pogromgewalt stammte von Walter Fuchs aus dem Jahr 1968. Darin heißt es:

„In den Abendstunden des 9. Novembers, etwa gegen 19.00 Uhr wälzte sich eine Horde, offensichtlich auch alkoholisierter Personen, die Mutschmannstraße (benannt nach dem NS Gauleiter) herauf.

Vor der Synagoge wurde ein großer Menschenauflauf und plötzlich war das Eisentor offen. In den Vorgarten stürmten SA Männer und auch fanatisierte Jugendliche waren dabei. Sie schlugen auf das Hauptportal der Synagoge ein, bis dieses unter den Hieben aufging. Einige Männer in Zivil schleppten Kanister mit irgendeiner Flüssigkeit in das Gotteshaus. Während die Menge auf der Straße grölte, begannen aus der Synagoge Flammen zu schlagen.

Plötzlich kam ein Lastauto mit SA-Männern zwischen denen offensichtlich Juden standen und schauten dem Brand zu“ (abgedruckt in: Diamant, Adolf: Chronik der Juden in Chemnitz heute Karl-Marx-Stadt. Aufstieg und Untergang einer jüdischen Gemeinde in Sachsen, Frankfurt am Main 1970, S. 133).

Der Augenzeuge berichtete auch, dass prominente Chemnitzer Juden, darunter auch der Gemeinderabbiner Dr. Hugo Fuchs, misshandelt und zum Brandort gefahren worden seien, wo sie der Vernichtung der Synagoge hätten zusehen müssen. Die Feuerwehr habe nicht gelöscht. Noch am Morgen des 10. November 1938 habe die ausgebrannte Synagoge geraucht (ebd., S. 133).

Die Auseinandersetzung mit den Pogromen nach 1945 (2): Rudolph Strauß

Anlässlich des 20. Jahrestags der Pogromgewalt in Chemnitz erinnerte in der Zeitung Volksstimme ein Artikel von Rudolph Strauß (1904-1987) an die Ereignisse. Strauß, der selbst von den Nationalsozialisten verfolgt und im Konzentrationslager Sachsenburg interniert war, leitete ab 1947 das Stadtarchiv.

Raub- und Mordsucht

In der Pogromgewalt erblickte er im Rückblick ein „Fanal der faschistischen Raub- und Mordsucht“, dem im Folgejahr der Beginn des Kriegs gefolgt sei. In seinem, auch gegen den ‚Monopolkapitalismus‘, die USA und Westdeutschland gerichteten Tenor ähnelt der Beitrag Erich Lodnis Artikel zu Bautzen und Wilthen.

Strauß geht auf zertrümmerte Geschäfte, die Brandstiftung und den Abriss der Chemnitzer Synagoge mit Unterstützung der Technischen Nothilfe ein – und nimmt sich damit auch der als Juden verfolgten Menschen unter dem Nationalsozialismus an (Strauß, Rudolph: Vor 20 Jahren brannten in Deutschland alle Synagogen – Dunkle Rauchwolken über dem Kaßberg, in: Volksstimme [Karl-Marx-Stadt] 13, 274 (25.11.1958), [o. S.]).

Zu Rudolph Strauß: Bräuer, Helmut; Viertel, Gabriele: Zum 100. Geburtstag des Stadtarchivdirektors Rudolph Strauß, in: Sächsische Heimatblätter 51 (2005), 1, S. 42–48.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (5): Zur abgebrannten Synagoge gegangen

Die Inaugenscheinnahme der Synagogenruinen, zerstörten Geschäfte und Einrichtungen konnte auch einen Akt der Aufrichtigkeit oder Widerständigkeit darstellen. Reinhold Müller, dessen Vater seit 1934 der Bekennenden Kirche angehörte, war nach der Auflösung des Chemnitzer CVJM ab 1940 im Jugenddienst Kreuz aktiv.

Mit dem Vater zur Synagogenruine

Müller erlebte die Pogromgewalt in Chemnitz nicht selbst, da er im Internat der Herrenhuter Brüdergemeine in Klein Welka bei Bautzen weilte.

Über einen Besuch in Chemnitz nach den Pogromen erinnerte er sich:

„Ein entscheidender Wendepunkt war die ‚Reichskristallnacht‘. Ich habe sie zwar selbst nicht miterlebt, weil ich nicht in Chemnitz war. Aber mein Vater hat mir einiges erzählt, was sich damals abgespielt hat, und er ist mit mir zur niedergebrannten Synagoge auf dem Kaßberg gegangen. Die Ruinen dieses Gotteshauses sprachen für sich selbst. Der Zahnarzt Zinkler – seine Söhne und später auch die Tochter waren bei uns im Jugenddienst Kreuz – war mit seinen Kindern ebenfalls zur abgebrannten Synagoge gegangen und hatte gesagt: ‚Heute brennt die Synagoge – unsere Kirchen werden genauso brennen‘ – und sie brannten ja auch. Er bestand – trotz der Judendiffamierung – darauf, dass seine Kinder weiter mit den jüdischen Kindern spielten“ (Müller, Reinhold: Bekenntnis und Zeugnis. Evangelische Jugend im Widerstand, Salzgitter 2006, S. 63). Müller griff dabei auch auf einen Bericht von  Eberhard Rudolph zurück. Unter dem Namen Zinkler finden sich für das Jahr 1938 zwei Zahnärzte im Chemnitzer Adressbuch eingetragen. Wahrscheinlich aber handelte es sich um den Zahnarzt Wilhelm Winkler, der im Adressbuch für 1939 nunmehr allein verzeichnet ist.

Müller wurde 1942 zur Luftwaffe eingezogen und kam 1945 in britische Kriegsgefangenschaft. Bis zur Einberufung arbeitete er aktiv in der christlichen Jugendarbeit.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (4): Eine Hundertjährige erinnert sich

Im November 2002 feierte Gertrud Ihle aus Chemnitz ihren 100. Geburtstag. Aus diesem Anlass interviewte sie die Vorsitzende des Chemnitzer Geschichtsverein, Gabriele Viertel. Ihles Onkel Emil Junghanns hatte als Hausmeister der Synagoge gearbeitet. Sie selbst habe für die jüdische Saxonia-Loge gewirkt.

Der Synagogenbrand

Auch den Brand der Synagoge erinnerte Ihle:

„Am 9. November haben wir nur den Schein gesehen, wie die brannte. […] Da war der Himmel hell. Meine Cousine wohnte in der Ahornstraße, die haben direkt gesehen, wie die Synagoge brannte. Wie sie an allen Ecken und Enden angezündet wurde. […] Wir haben das alle gesehen, der Himmel war doch hell. Die große Synagoge, wie die lichterloh gebrannt hat. Und die stand doch auch auf der Höhe“ (Ihle, Gertrud; Viertel, Gabriele: Gespräch mit Gertrud Ihle über ihre Arbeit an der Chemnitzer Synagoge, in: Chemnitzer Geschichtsverein e. V. (Hg.): Chemnitzer Schicksale, Chemnitz 2002, S. 44–52, hier: S. 48).

Ihle berichtete auch, dass sie am Folgetag nicht bei der Synagogenruine gewesen sei, da alles noch geraucht habe und abgesperrt gewesen sei. Zwar hätten die Ruine viele gesehen, doch habe Angst und Schrecken geherrscht (ebd., S. 49).

Ihles Bericht ist ein Beispiel für die Erinnerungen von Personen, die die Pogromereignisse als Erwachsene erlebte. Gleichwohl zeigt das Interview auch, dass der lange zeitliche Abstand die genaue Rekonstruktion des Erlebten erschwert.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (3):Familie Sachs

Wie brutal und unvorbereitet Pogromgewalt und Verhaftungen als Juden verfolgte Menschen trafen, erlebte auch die Familie Cohn in Chemnitz. Am 9./10. November 1938 gaben sich der bereits in Buenos Aires lebende Günther Sachs und die in Chemnitz verblieben Hanna Luise Cohn per Fernheirat das Jawort.

„Macht endlich uff, ihr Judenschweine“

Dann traf Cohns die Gewalt der Pogrome. Eberhard Keil, der sich intensiv mit der Unternehmerfamilie Sachs beschäftigt hat, schreibt darüber wie folgt:

„Dort, in Chemnitz hatte bereits ein neuer Tag begonnen und es war vier Uhr in der Nacht. Da setzte an der Tür der Cohn’schen Wohnung lauter Lärm ein, Fäuste schlugen gegen das Holz und es klingelte ununterbrochen Sturm. ‚Rauskommen, Cohn! Raus, na, wird’s bald!‘ ‚Macht endlich uff, ihr Judenschweine!‘ Während sich Dr. Fritz Cohn anzog und seine Frau vor Schreck erstarrte, rannte Hanna in die Küche und suchte etwas Essbares zusammen, das sie eilig in Papier einschlug und dem Vater in die Hand drückte. Der öffnete die Tür und wurde sofort von einem groben Kerl in SA-Uniform am Mantel gepackt und rausgezerrt. ‚Cohn, Fritz?‘ schrie man ihn an. Er nickte, sagte leise ‚Ja‘ und hatte den Lastwagen zu besteigen, auf dem sich schon andere Männer befanden. Nach zehn Minuten war der Spuk vorbei, der Vater weg, die Mutter weinte, und Hanna rannte zu Bekannten und Verwandten in der Hoffnung, noch irgendjemand waren zu können“ (Keil, Eberhard: Die Sachswerk-Saga, 1914-1945. Eine Industrie-Geschichte aus Böhrigen, Chemnitz und der ganzen Welt, Marbach am Neckar 2006, S.6).

Nach Buchenwald

Fritz Cohn wurde ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt, wo er schreckliche Wochen erlebt habe (vgl. ebd., S. 246). Nach der Haft emigrierte er nach Norwegen, von wo er im Herbst 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Dort kam er im Januar 1943 um.