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9. November (2): Gedenktag der nationalsozialistischen Bewegung – Leipzig

Eine nicht zu unterschätzende organisatorische Grundbedingung für die Pogromtaten bildete in vielen Orten die Tatsache, dass der 9. November 1938 auch der 15. Jahrestag des gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putschs war. Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen versammelten sich an diesem Tag zum Gedenken und zur „Heldenehrung“ – und nicht selten brachen sie dann von diesen Veranstaltungen auf, um die Pogrome zu inszenieren.

Der Hitler-Putsch (1923)

Am 8./9. November 1923 hatten Adolf Hitler, Erich Ludendorff und weitere Putschisten in München den Aufstand geprobt und die Regierung für abgesetzt erklärt. Ein beabsichtigter Marsch auf Berlin scheiterte am Münchner Odeonsplatz, wo es zum Schusswechsel mit der Bayrischen Landespolizei kam. Vier Polizisten, ein Schaulustiger und 13 Putschisten starben.

Gedenken an die „Blutzeugen“ der nationalsozialistischen Bewegung: Leipzig

Aufgrund des Hitlerputsches wurde der 9. November zum zentralen Erinnerungs- und Gedenktag der NS-Bewegung, der im „Dritten Reich“ mit großer Inszenierung begangen wurde.

So auch 1938 in Leipzig, wo mehrere „Blutzeugen der Bewegung“ – also vor 1933 getötete Nationalsozialisten – am 8./9. November auf den Südfriedhof überführt und in einer eigens geschaffenen Gedenkanlage beigesetzt wurden.

Am 9. November 1938 fanden dann am Abend um 20:30 Uhr Veranstaltungen in die einzelnen Ortsgruppen der NSDAP statt. Ranghohe Vertreter der NSDAP wohnten auf Einladung des Oberbürgermeisters zudem der Aufführung von Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ bei.

Erst in den späten Abendstunden, habe dann die Bekanntmachung des Todes des Pariser Diplomaten vom Rath „[u]ngeheure Erregung und Empörung“ ausgelöst – so Erich Schwabl, der im Ton der antisemitischen nationalsozialistischen Propaganda im Leipziger Jahrbuch auf das Jahr 1938 zurückblickte.

Bildquelle: Umbettung von sieben Leipziger „Blutzeugen“, 08./09.11.1938 (Leipziger Neueste Nachrichten).

Die Organisation der Gewalt (2): Neustadt (Sachsen)

Auch die Berichte von den Pogromereignissen in Neustadt bei Sebnitz geben Zeugnis von der Organisation der Gewalt. Diese stand auch den Beobachtern vor Ort vor Augen. Kaum jemandem dürfte entgangen sein, dass der von der nationalsozialistischen Propaganda behauptete „spontane Volkszorn“ tatsächlich, mehr oder weniger gut, durch die NSDAP und ihre Gliederungen organisiert war.

Steine aus einem Auto

In Neustadt fuhr ein Autor vor das Textilgeschäft von Eric Israel in der Böhmischen Straße 19 vor. Aus diesem flogen Steine in die Fensterscheiben des Geschäfts.

In der Einfahrt auf der gegenüberliegenden Straßenseite soll zudem ein Tafelwagen mit der Beschriftung „Judenschwein“ und „Judensau“ gestanden haben. Damit sollte das Ehepaar Israel durch die Stadt gefahren werden. Es konnte aber mit Hilfe des Besitzers des Hauses, des Schneidermeisters Josef Wehland, fliehen.

Organisierte Kundgebung

Die später herabgelassenen Rollläden des Geschäfts wurden mit antisemitischen Losungen beschmiert. Zudem sei es noch zu einer Zusammenrottung gekommen, bei der antisemitische Losungen gebrüllt worden seien.

Der Familie Israel gelang 1939 die Flucht in die USA.

Die Angaben zu den Pogromen in Neustadt (Sachsen) sind entnommen aus:

Bergmann, Herbert: Juden in Sebnitz und ihr Schicksal, Sebnitz/Hinterhermsdorf 1999.

Die Organisation der Gewalt (1): Leipzig

Nach allem, was bislang bekannt ist, setzten die Pogromhandlungen in Leipzig erst am 10. November ein. Gegen 1 Uhr nachts erhielt der Kreisleiter der NSDAP Leipzig, Ernst Wettengel, einen Anruf der Gauleitung in Dresden. Darin wurden ‚Maßnahmen‘ gegen die Juden sowie die Zerstörung der Synagogen angeordnet.

Im Vergleich zu Dresden und Chemnitz später Pogrombeginn in Leipzig

In Dresden, aber auch in Chemnitz brach sich die Gewalt bereits ab dem Abend des 9. November seine Bahn. In Leipzig, dürften verschiedene Faktoren den späteren Beginn der Pogrome bedingt haben: Nicht nur die nationalsozialistischen Feierlichkeiten in Erinnerung an den 9. November 1923, den Jahrestag des Hitler-Ludendoff-Putsches, sondern auch die internationale Stellung der Stadt – als Messestadt und Sitz ausländischer Vertretungen – dürften hier eine Rolle gespielt haben.

Der NSDAP-Kreisleiter organisiert die Gewalt

Nach dem Anruf aus Dresden rief Kreisleiter Wettengel die Ortsgruppenleiter und SA-Standartenführer zunächst zu einer Besprechung zusammen. Die Brandschatzung der Einrichtungen der Israelitischen Religionsgemeinde oblag organisatorisch dem Führer der SA-Motor-Standarte 35, Kurt Kießling.

Die ‚spontanen Aktionen‘ sollten ohne Hoheitsabzeichen und Uniform ausgeführt werden. Mit Fahrzeugen ausgestattete Trupps des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps begannen in den folgenden Stunden mit ihrem Zerstörungswerk.

Kaufhaus Bamberger & Hertz – das erste Feuer

Nach den Recherchen des Leipziger Historiker Steffen Held, einem der besten Kenner der Leipziger Pogromereignisse, war das erste Gebäude, das in Leipzig angegriffen wurde, allerdings nicht die von den Zerstörungstrupps planmäßig in Brand gesetzte Synagoge in der Gottschedstraße unweit der NSDAP-Kreisleitung. Vielmehr seien es SA-Leute gewesen, die in einer spontanen, unkoordinierten Aktion das Kaufhaus Bamberger & Hertz am Augustusplatz in Brand setzten. Die Schuld am Feuer wurde dann allerdings den als ‚Juden‘ verfolgten Geschäftsinhabern zur Last gelegt.

Literaturhinweise:

Held, Steffen: Der Novemberpogrom 1938 und das Spannungsverhältnis öffentlicher Anteilnahme, in: Leipziger Blätter (1998), 33, S. 60–62.

Held, Steffen: Der Novemberpogrom in Leipzig und die Massenverhaftung Leipziger Juden 1938/39, in: Unger, Manfred (Red.): Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, Leipzig: Edition Leipzig 1994, S. 194–206.

9. November (1): Der Fall des Kaufmanns Bach in Mittweida

Dass Repressalien und Gewalt gegen als ‚Juden‘ verfolgte Menschen auch in Sachsen schon vor den Pogromen im November 1938 immer wieder vorkamen, belegen unter anderem Ereignisse am 9. November 1937 in Mittweida.

Das Kaufhaus Bach am Markt in Mittweida

Das Kaufhaus von Frieda und Herbert Bach war bereits 1933 vom sogenannten Boykott ‚jüdischer‘ Geschäfte betroffen. Es musste 1935 schließen; fortan betrieb Bach ein kleines Geschäft. Am 9. November 1937 verhaftete man Herbert Bach und überführte ihn ins Amtsgericht. Der gegen ihn erhobene Vorwurf lautete auf Lieferbetrug.

Der Tod Herbert Bachs

Was dann genau im Amtsgerichtsgebäude geschah, ist nicht restlos geklärt. Sicher ist, dass Bach den Tag nicht überlebte, weil sich der 33-Jährige angesichts der Verfolgung aus dem Fenster zu Tode stürzte oder durch Dritte hinabgestoßen wurde.

Seit 2008 erinnern zwei Stolpersteine in der Stadt an das Ehepaar. Am 9. November 2017 – dem 80. Jahrestag des Todesfalls – wurde im Rathaus, dem ehemaligen Amtsgericht, eine Gedenktafel enthüllt. Sie wird nach dem Abschluss der Sanierungsarbeiten an der Unglücksstelle angebracht.

Ausführliches wird man zum Fall der Familie Bach in dem Anfang des kommenden Jahres erscheinenden Buch des Historikers Jürgen Nitsche zur Geschichte der Juden in Mittweida nachlesen können.

Hierzu auch:

Domschke, Jan-Peter; et al.: Zur Geschichte der Stadt Mittweida, Mittweida 2009, 140.

Briefmarken (4) – Das Gedenken an die Novemberpogrome in Israel (1988)

Ebenfalls 1988 gab auch Israel eine Briefmarke zum Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 heraus. Zahlreiche der in Deutschland nach 1933 als ‚Juden‘ verfolgte Menschen hatten hier Zuflucht und oft auch ein zweites Zuhause gefunden.

Die brennende Synagoge in Heilbronn

Wie die bundesdeutsche Marke, so nahm auch die israelische Briefmarke die Abbildung einer, während der Novemberpogrome brennenden Synagoge auf: Sie zeigt ein Foto der Heilbronner Synagoge. Die Marke erschien im Nennwert von 80 Agorot.

Literaturhinweis: Eisenberg, Ronald L.: The Jewish World in Stamps. 4000 Years of Jewish Civilization in Postal Stamps, Rockville 2002.

Bildquelle: http://www.alemannia-judaica.de/synagoge_heilbronn.htm

Briefmarken (3) – Das Gedenken an die Novemberpogrome in der BRD (1988)

Nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik erschien 1988 eine Briefmarke, die anlässlich des 50. Jahrestages an die Novemberpogrome erinnerte.

Die brennende Synagoge in Baden-Baden

Im Unterschied zu den beiden ostdeutschen Briefmarken war hierfür auf eine Fotografie der brennenden Synagoge in Baden-Baden zurückgegriffen worden. Der von Lüdtke stammende Entwurf kam in einer Auflage von 32 Millionen Stück im Nennwert von 80 Pfennigen am 13. Oktober 1988 heraus.

Die brennende oder zerstörte Synagoge als Symbol der Pogrome

Wie die DDR-Briefmarke von 1963 und eine ebenfalls 1988 erschienene israelische Marke, präsentierte die bundesdeutsche mithin das Sujet, das heute den meisten Menschen beim Gedanken an den 9./10. November 1938 vor Augen stehen dürfte: Die brennende oder zerstörte Synagoge. Dass dieses Symbol einen zentralen Platz in der Erinnerungskultur einnimmt, zeigt sich auch daran, dass es heute in der Regel die Gedenksteine an den ‚Leerstellen‘ der ehemaligen Synagogenstandorte sind, an denen das öffentliche Erinnern zelebriert wird. Nicht anders ist das in Sachsen.

Das tausendfache menschliche Leid darf allerdings davon nicht verdeckt werden, denn: Die Pogrome trafen vor allem Menschen, die hier lebten. Und: Es waren andere Menschen, die die Brände legten und Gewalt übten.

Bildquelle: Wikimedia Commons.

Briefmarken (2) – Das Gedenken an die Novemberpogrome in der DDR (1988)

Im Vergleich zu der 1963 erschienenen Briefmarke, unterschied sich die 1988 in der DDR herausgegebene Briefmarke in mehrfacher Hinsicht: Begrifflich war nun nicht mehr von „Kristallnacht“, sondern von „Faschistischer Pogromnacht“ die Rede. Anstatt der Darstellung einer brennenden Synagoge zierte die Marke ein siebenarmiger Leuchter, eine brennende Menora. Der Entwurf der am 8. November 1988 erschienenen Marke geht auf Detlef Glinski zurück. Die Briefmarke kam in einer Auflage von 3,5 Millionen Stück heraus.

Öffentliches Pogromgedenken und die Annäherung an Israel 1988

Die Briefmarke, die anlässlich des 50. Jahrestags der Novemberpogrome erschien, ist in den Kontext des allgemeinen und öffentlichen Pogromgedenkens einzuordnen. Die Öffnung der DDR gegenüber Israel – insbesondere aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus – erhöhte auch die öffentliche Wahrnehmung der jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet der DDR und ihrer Geschichten. Die inhaltliche Beschäftigung mit der Geschichte von Juden vor Ort, die auch die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung einschloss, lag zu dieser Zeit bereits vor allem in den Händen zivilgesellschaftlicher Gruppen und Akteure. Diese waren es schließlich auch, die nach dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung das Pogromgedenken und die darüber erschienene Literatur nachhaltig beeinflussten.

Bildquelle: Wikimedia Commons.

Briefmarken (1) – Das Gedenken an die Novemberpogrome in der DDR (1963)

In der DDR erschienen 1963 und 1988 zwei Briefmarken, die dem 25-jährigen und 50-jährigen Gedenken an die Novemberpogrome gewidmet waren. In ihrer bildlichen und textuellen Gestaltung erlauben sie Einblicke in die zeitgenössischen Begrifflichkeiten und Schwerpunkte der Pogromerinnerung.

Die 10-Pfennig-Briefmarke von 1963

Der Entwurf der DDR-Briefmarke von 1963 stammt von Karl Sauer und Horst Naumann. Ausgegeben wurde die Marke am 8. November 1963. Insgesamt wurden fünf Millionen Stück gedruckt.

Motive und Begriffe

Textuell nutzt die Marke noch den Begriff „Kristallnacht“, die sich „niemals wieder“ ereignen dürfe. Zu erkennen sind eine brennende Synagoge und ein gelber, von einer schwarzen Kette umfangener „Judenstern“. Der Stern als Symbol der Verfolgung wurde allerdings erst 1941 eingeführt. Die Briefmarke stilisiert hier also gewissermaßen eine Kontinuität von den Pogromereignissen hin zur Schoa.

Keine Zwangsläufigkeit hin zur Schoa

Doch auch, wenn radikale Antisemiten eine physische Lösung der „Judenfrage“ in Betracht zogen, war die massenhafte, fabrikmäßige Tötung von Männern, Frauen und Kindern Ende 1938 bei aller Gewalt und den mit den Pogromen einhergehenden Mordfällen noch nicht absehbar. Vielmehr zielten die Maßnahmen wie auch die Pogrome nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März des Jahres vor allem darauf ab, die „Arisierung“ von Geschäften wie Unternehmen voranzutreiben und die Auswanderung von als ‚Juden‘ verfolgten Menschen zu forcieren.

Bildquelle: Wikimedia Commons.

Proteste gegen ‚jüdische‘ Firmeninhaber (2): Die Firma Rheostat in Dresden

Auch in Dresden ist ein organisierter antisemitischer Protest in einer Firma am 10. November 1938 belegt: Betroffen war das Unternehmen Rheostat in der Großenhainer Straße im Norden der Stadt.

Ein nationalsozialistisch gelenkter Zeitungsbericht

Die Dresdner NS-Tageszeitung Der Freiheitskampf publizierte in ihren Berichten über die Dresdner Pogromereignisse auch den folgenden kleinen Abschnitt:

„Die Geduld der Arbeitskameraden des Betriebes ‚Rheostat‘ in der Neustadt war am Donnerstagmorgen ebenfalls endgültig erschöpft. Sie forderten auf dem Fabrikhof die sofortige Entfernung der jüdischen Inhaber des Betriebes. Diese berechtigte Forderung wurde erfüllt. Die Juden wurden aus dem Betrieb gewiesen und einer der jüdischen Inhaber namens Kussi in Schutzhaft genommen“ (Nr. 311 (11.11.1938)).

Der Artikel, der in der Sprachwahl den Vorgaben der nationalsozialistischen Presselenkung entsprach, belegt nichts weniger, als die gewaltsame Entfernung und Inhaftierung der als ‚Juden‘ verfolgten Firmeninhaber. Frank Werner Kussi (später: Kussy, 1910-2010) wurde verhaftet; er floh nach seiner Freilassung 1939 in die Niederlande. Er und weitere Mitglieder seiner Familie wurden dort 1942 von den Deutschen aufgegriffen. Von diesen erlebte allein Frank Werner Kussi nach der Inhaftierung in verschiedenen anderen Konzentrationslagern in einem Nebenlager von Auschwitz das Kriegsende. Sein Bruder, der Direktor der Firma Rheostat, Fritz Viktor Kussi, kam 1945 in Auschwitz um.

Proteste gegen ‚jüdische‘ Firmeninhaber (1): Die Filzfabrik S. Valentin in Georgewitz

Es gibt mehrere Beispiele, dass auch innerhalb von Firmen, die sich im Besitz von als ‚Juden‘ verfolgten Menschen befanden, antisemitischer Protest organisiert wurde. Wer hierfür jeweils die Verantwortung hatte, ob einzelne, ‚glühende‘ Nationalsozialisten, die Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisationen (NSBO) oder Personen von außerhalb, ist noch genauer zu untersuchen.

Die Firma S. Valentin in Georgewitz bei Löbau

In Georgewitz, das heute nach Löbau eingemeindet ist, kam es am 10. November 1938 zu antisemitischen Protesten. Vor der Filzfabrik S. Valentin, so berichtet es die Zeitung Sächsischer Postillion (Nr. 264 (11.11.1938)) sei eine Demonstration abgehalten worden. Dabei sei der Belegschaft erklärt worden, wie das Pariser Attentat auf den Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath zu deuten sei. Und der Zeitungsartikel hob auch hervor, dass die Kundgebung nicht missverstanden werden solle – eine deutliche Drohung gegen die als ‚Juden‘ Verfolgten, die sich keineswegs mehr sicher fühlen sollten.