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Victor Klemperer (2) – Die Angst nach den Pogromen

Neben den heute bekannten Briefen gibt auch Victor Klemperers Tagebuch einen Eindruck davon, wie sehr die Pogromgewalt die Verfolgten belastete. Spätestens angesichts der zerstörten Wohnungen, Geschäfte und Synagogen sowie der erfahrenen physischen und psychischen Angriffe bemühten sich nun auch jene um Ausreise, die bislang zumindest auf eine Koexistenz von ‚Juden‘ und ‚Nichtjuden‘ im Deutschen Reich gehofft hatten.

Klemperers Ausreisebemühungen

Auch Klemperer war um Emigration bemüht, wie unter anderem sein Tagebuch verrät. Unter dem 27. November 1938 schrieb er:

„Unter dem ersten Eindruck hielten wir ein Fortmüssen für absolut notwendig und begannen mit Vorbereitungen und Erkundigungen. Ich schrieb am Tag nach der Verhaftung am Sonnabend 12. 11. dringende SOS- Briefe an Frau [Jenny] Schaps und Georg [Klemperer – den Bruder]. Der kurze Brief an G. begann: Sehr schweren Herzens, aus ganz veränderter Situation, ganz an den Rand gedrängt, ohne Détails: Kannst Du für meine Frau und mich Bürgschaft leisten, kannst Du uns beiden für ein paar Monate drüben helfen? In persönlicher Bemühung würde ich sicher irgendeinen Posten als Lehrer oder im Bureau finden. – Ich telephonierte an Arons – der Mann hatte mich am Tage des Münchener Abkommens am Bismarck angesprochen. Herr [Alfred] A. sei nicht anwesend, Frau [Bertha] A. würde mich Abends gegen acht empfangen. Ich fuhr hin: eine reiche Villa in der Bernhardtstr. Ich erfuhr, dass er und mit ihm überviele andere verhaftet und verschleppt seien; man weiss noch heute nicht, ob sie im Lager Weimar sind oder bei den Befestigungsarbeiten im Westen als Sträflinge u. Geiseln verwendet werden“ (Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 1159).

Ohne Erfolg – Überleben bis 1945

Erfolg war ihm nicht beschieden. Bis Anfang 1945 lebte Victor Klemperer, von seiner ‚arischen‘ Ehefrau noch geschützt, in Dresden. Nach den Luftangriffen vom 13./14. Februar 1945 tauchte er unter und erlebte so das Kriegsende.

Quelle: Victor Klemperer. Die Tagebücher 1933-1945. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 2007.

Victor Klemperer (1) – Die Tagebücher und die Novemberpogrome

Zu den Menschen, die die Pogromereignisse vor Augen hatten und selbst als ‚Juden‘ verfolgt waren, gehörte auch der Dresdner Romanist Victor Klemperer. Als Professor von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen – Klemperer hatte sich 1912 taufen lassen – erfuhr und beobachte er die zunehmende Zurücksetzung und Verfolgung. Sein LTI und die Tagebücher geben hiervon Zeugnis.

Die Tagebücher als Quelle

In seinen Tagebüchern geht Klemperer auch auf die Dresdner Pogromereignisse ein. So schreibt er am 22. November 1938:

„Erst war es wohl der Wille, ein Stückchen in der Arbeit vorwärtszukommen, ehe ich wieder eine Tagebuchnotiz machte, und dann kam Unheil über Unheil, man kann wohl schon sagen: Unglück. Erst Krankheit, dann der Autounfall, dann im Anschluß an die Pariser Grünspan-Schiessaffaire die Verfolgung, seitdem das Ringen um Auswanderung“ (Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 1150).

Und an anderer Stelle unter demselben Datum:

„Als ich […] noch einmal nach Pirna fuhr, war inzwischen die Grünspanaffaire erfolgt. Vor der Fahrt hatte ich eben bei [Jordan] Natcheff gehört, dass man die Nacht zuvor spontan die hiesige Synagoge niedergebrannt u. jüdische Fensterscheiben eingeschlagen habe. Ich brauche die historischen Ereignisse der nächsten Tage, die Gewaltmassnahmen, unsere Depression nicht zu schildern. Nur das Engpersönliche und conkret Tatsächliche“ (Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 1155).

Hausdurchsuchung in Dölzschen

Und persönlich betroffen war das Ehepaar Klemperer dann am 11. November 1938: Es mussten eine Hausdurchsuchung durch zwei Gendarmen und einen Zivilisten über sich ergehen lassen; Victor Klemperer wurde zunächst mit aufs Gericht am Münchner Platz genommen, kam aber noch am selben Tag wieder frei.

Quelle: Victor Klemperer. Die Tagebücher 1933-1945. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 2007.

Aus der Ortschronik von Zwönitz: Die Verhaftung von Karl Cohn am 10. November 1938

Nicht selten nehmen sächsische Ortschroniken, die von Heimatforschern und Historikern vor Ort erstellt wurden, für das Jahr 1938 auch Bezug auf die Pogrome. Dies ist auch für Zwönitz der Fall (Schneider, Uwe: Chronik der Stadt Zwönitz 960-1945. Ein Handbuch, 2. Aufl., Zwönitz 2016).

Die Chronik berichtet nicht nur von der Verschärfung der antisemitischen Propaganda ab Jahresbeginn. Vielmehr führt sie auch auf, dass am 10. November 1938 der „einzige in Zwönitz lebende, und mit einer deutschen Frau verheiratete kinderlose Jude Karl Cohn […] verhaftet und ins KZ-Buchenwald überführt“ worden sei (S. 389).

Das Leben und die Verfolgung von Karl Cohn (1887-1980)

Cohn, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, war 1922 zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertiert. Er arbeitete für die Pappenfabrik Koch. Es sei dem Einsatz seines Arbeitgebers Hellmut Koch zu verdanken gewesen, dass Cohn am 1. Dezember 1938 wieder nach Zwönitz zurückkehren konnte. Ab September 1941 musste er dann den gelben Stern tragen und sich am 11. Februar 1943 auf eigene Rechnung ins Konzentrationslager Theresienstadt begeben.

Er kehrte im Juni 1945 nach Zwönitz zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte (S. 389, 402, 408).

Die Wahrnehmung der Pogrome im Ausland: Paul Mühsam

Die Berichte über die Pogromereignisse im Deutschen Reich verbreiteten sich schnell auch ins Ausland. Der schon 1933 nach Palästina emigrierte Rechtsanwalt Paul Mühsam (1876-1960) aus Görlitz notierte seine Wahrnehmungen unter dem 10. November 1938 in seinem Tagebuch:

„Entsetzliche Judenpogrome in Deutschland. Zahllose Synagogen verbrannt. Massenverhaftungen. Strafe von 1 Milliarde Mark. Mord und Raub unter dem scheinheiligen Vorwand einer Sühne für das Attentat von Grünspan auf den Botschaftsattaché vom Rath. Im Radio Judenhetze schlimmster Art. Das Regime, das tausende von Juden gemartert, getötet und zum Selbstmord getrieben hat, regt sich über die Reaktion eines Gequälten [Anm.: gemeint ist hier Grynszpan] auf, schiebt die Schuld heuchlerisch dem ‚Weltjudentum‘ in die Schuhe und macht die völlig schuldlosen Juden Deutschlands dafür verantwortlich. Mittelalter schlimmster Art.“ (Quelle: Mühsam, Paul: Mein Weg zu mir. Aus Tagebüchern, Zweitdruck der 1. Aufl., Konstanz 1992, S. 196).

Versuch einer Deutung der Pogrome aus dem Exil

Nur wenige Tage versuchte sich Mühsam in einer Einordnung der Ereignisse, die er unter dem 22. November in seinem Tagebuch notierte: „Die Krankheit, an der die Führerschicht Deutschlands leidet, heißt moral insanity, ein Fehlen jedes Ethos. … Darum gilt es als richtiger, Unrecht zu tun statt Unrecht zu leiden, für alles Störende rächt man sich, den nicht Zugehörigen verspottet man, den Gleichstehenden haßt man, den Höherstehenden beneidet man, den Tieferstehenden verachtet man.“ (Quelle: ebd., S. 196).

Dass Mühsam nach mehrjährigem Ringen Ende 1938 von den Behörden in Palästina endlich eingebürgert wurde, führte er ebenfalls auf die Novemberpogrome zurück, die den Ausschlag für den positiven Bescheid gegeben hätten (ebd., S. 197).

Die Berichte der Zeitzeugen – digitalisierte Quellen zu den Novemberpogromen

Viele der als ‚Juden‘ Verfolgten, denen die Emigration gelang, dokumentierten bereits kurz nach ihrer Flucht oder später in ihren Lebenserinnerungen ihre Erlebnisse während der Pogromnacht. Viele dieser Berichte gelangten vor allem in England, den Vereinigten Staaten und Israel in die Archive großer Forschungseinrichtungen zur jüdischen Geschichte und zum Holocaust.

Die Wiener Library in London

1933 gründete der aus Deutschland emigrierte Alfred Wiener (1885-1964) in Amsterdam das ‚Jewish Central Information Office‘, das über die nationalsozialistische Judenverfolgung Dokumente zusammentrug. 1939 wurde die Bibliothek nach London verlegt und firmiert heute unter dem Namen Wiener Library als eine der namhaftesten Wissenschaftsinstitutionen zur Holocaustforschung.

Die Zeugenberichte der Verfolgten

Zu den Dokumenten in der Wiener Library zählen auch über 350 Augenzeugenberichte zu den Novemberpogromen im Deutschen Reich, die Wiener in Amsterdam sammelte und mit nach London nahm. Sie geben auch Auskunft zu den Pogromen in Sachsen.

So befindet sich unter den Augenzeugenberichten auch einer, der die Leipziger Pogrome mit all ihrer Gewalt und Zerstörung schildert.

Das Dokument findet sich unter: http://wienerlibrarycollections.co.uk/novemberpogrom/testimonies-and-reports/b301-b350/b.326

Es ist in deutscher Sprache und englischer Übersetzung kostenfrei verfügbar.

Ein Thoramantel mit Brandschaden in Dresden

Obwohl die während der Pogrome angegriffenen Einrichtungen der jüdischen Gemeinde in Sachsen zerstört, niedergebrannt und geplündert wurden, überstanden einzelne Gegenstände und religiöse Kultobjekte die Zeit des Nationalsozialismus.

Eine Besuchergruppe berichtet vom Besuch der Dresdner Synagoge (Fiedlerstraße)

Eines dieser Objekte sahen 1982 Konfirmanden der Friedenskirche in Radebeul, die mit ihren Pfarrern Gehrt, Lewek und Döbler die Dresdner Synagoge auf der Fiedlerstraße besuchten. Helmut Aris führte in die Besonderheiten und Geschichte des Judentums wie auch der Dresdner jüdischen Gemeinde ein. Ein Bericht der Konfirmanden über den Besuch kam im Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik zum Abdruck (9/1982, S. 12).

Der Thoramantel

Aris berichtete den jungen Besuchern auch von der Zeit der Verfolgung zwischen 1933 und 1945, von der Zerstörung der Dresdner Synagoge und der Rettung des Davidsterns. Und Aris zeigte den Konfirmanden noch mehr, wie sie schreiben: „Es machte uns betroffen, als wir den größten und schönsten Schatz der Synagoge sahen: die Thorarollen. Eine von ihnen war in einen Mantel gehüllt, der noch Brandschäden aus der Kristallnacht von 1938 zeigte. Wir heute können es uns gar nicht mehr vorstellen, daß es eine Zeit gab, in der Menschen gehaßt und verfolgt wurden, nur weil sie Juden, weil sie Menschen eines bestimmten Volkes waren.“

Fotografien in den Zeitungen von 1938: Eine Leerstelle mit Ausnahme (II)

Obwohl nur eine Aufnahme von den Pogromen in der sächsischen Lokalpresse vom November 1938 bekannt ist, begleiteten anscheinend auch Pressefotografen die Gewalt gegen als ‚Juden‘ verfolgte Menschen.

Der Fall Görlitz: Erwähntes Foto, aber kein Bild

Einen Hinweis darauf bietet die Oberlausitzer Tagespost, die am 11. November 1938 von den Görlitzer Pogromereignissen, die sich auch gegen ‚jüdische‘ Geschäfte richteten. Darin heißt es unter anderem:

„In einigen Judenläden der Stadt übernahmen einige Görlitzer freiwillige ‚Aufräumungsarbeiten‘, um dadurch ihren Abscheu über das Pariser Verbrechen Ausdruck zu verleihen. So in dem jüdischen Ramschbasar Horn, Steinstraße, wo in den Auslagen – wie aus unserer Aufnahme hervorgeht – das oberste zu unterst gedreht wurde. Außerdem wurden weitere Judenläden in der Bismarckstraße und am Grünen Graben in Mitleidenschaft gezogen.“

Auch, wenn hier deutlich die Anfertigung und das Vorhandensein genannt wird: Der Artikel erschien ohne Fotografien.

Die Görlitzer Fotografien

Dass es die Fotografien aber offensichtlich gab, zeigen die beiden heute bekannten Aufnahmen aus Görlitz: Zu sehen sind darauf zum einen das zerstörte Textilhaus Fischer auf der Bismarckstraße 29, zum anderen wohl eben genau jene, im Zeitungsartikel erwähnte Fotografie, die die durcheinandergeworfenen Auslagen des Konfektionshauses J. Horn in der Steinstraße zeigt.

Beide Aufnahmen sind u. a. abgedruckt in: Hartstock, Erhard; et al. (Hg.): Juden in der Oberlausitz, 2. Aufl., Bautzen 2008, S. 122.

Fotografien in den Zeitungen von 1938: Eine Leerstelle mit Ausnahme (I)

Nach dem Attentat von Herszel Grynszpan auf den Legationsrat Ernst vom Rath in Paris waren die Tat und die antisemitischen Kollektivvorwürfe gegen die ‚Juden‘ Gegenstand der Tagespresse. Diese richteten sich nach genauen Anweisungen aus Berlin, wonach die allgemeine Empörung, die Schuld „Alljudas“ und das Ende der Geduld deutlich zu thematisieren seien. Die lokalen Ereignisse sollten dagegen eher kurz behandelt werden.

„Spontaner Volkszorn“

Mit Blick auf die Pogromereignisse sollte der „spontane Volkszorn“, also die Empörung der breiten Masse gegen die ‚Juden‘, deutlich hervorgehoben werden. Diese Strategie ging allerdings nicht auf, da den meisten Zuschauer die Organisation und Durchführung der Gewalt durch Angehörige von NS-Formationen deutlich vor Augen standen oder zumindest bewusst war.

Fotografien in der Presse – eine Leerstelle

Inzwischen habe ich etwa siebzig sächsische Zeitungen, die meisten davon Lokalblätter, gesichtet. Neben der Tatsache, dass sich die allgemeine Berichterstattung zum Attentat und den Pogromen wie auch den nachfolgenden antisemitischen Gesetzen weitestgehend, zum Teil sogar bis aufs Wort gleichen, finden sich auch Fotografien. Diese zeigen allerdings nur den Attentäter Grynszpan, seine verhafteten Pariser Verwandten, die deutschen Ärzte, die Hitler zur Rettung vom Raths in die französische Hauptstadt geschickt hatten, Ernst vom Rath sowie die Trauer- und Beisetzungsfeierlichkeiten.

Eine Fotografie aus Leipzig

Lokale Aufnahmen sucht man indes vergebens. Dies war Absicht, auch, um publizistischen Gegenkampagnen in der ausländischen Presse kein Bildmaterial zu liefern. Das Regime war dabei insgesamt sehr erfolgreich (vgl. Kreutzmüller, Christoph; Simon, Hermann; Weber, Elisabeth: Ein Pogrom im Juni. Fotos antisemitischer Schmierereien in Berlin 1938, Berlin 2013, S. 26-28).

Doch es gibt eine Ausnahme: Die Leipziger Tageszeitung brachte am 11. November 1938 eine Fotografie des am Vortag von SA-Männern in Brand gesteckten Kaufhauses Bamberger & Hertz am Augustusplatz.

 

Warum gerade diese Zeitung als einzige eine Fotografie zum Abdruck brachte, ist nicht bekannt. Vielleicht trafen die Herausgeber den Entschluss vor dem Hintergrund, dass der Brand tatsachenwidrig den als ‚Juden‘ verfolgten Kaufhausbesitzern zur Last gelegt wurde. Diese hätten sich die Versicherungssumme erschleichen wollen – ein Vorgang, den fast alle sächsischen und viele nichtsächsische Zeitungen ebenfalls in ihre Berichterstattungen aufnahmen.

Lehrfilm zum Abbruch der Brandruine der Dresdner Synagoge, November 1938

Ab dem 11. November wurden die Ruinen der zerstörten Synagogen und Gemeindebauten auf Anordnung des sächsischen Innenministeriums und weitergegeben durch die Bürgermeister der jeweiligen Städte auf Kosten der jüdischen Gemeinden abgerissen.

Der Abbruch der Brandruine der Dresdner Synagoge – ein Lehrfilm der Technischen Nothilfe

Nachdem die Dresdner Synagoge in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Brand gesteckt worden war und ausbrannte, erfolgte zwischen dem 11. und 30. November vor allem in den Abend- und Nachtstunden der Abriss der Ruine. Ein reichlich 10-minütiger Lehrfilm der Technischen Nothilfe hielt die Abbruch- und Sprengarbeiten fest. Eine Fotografie von den Abrissarbeiten ist inzwischen bekannt.

Der Film enthält in den Anfangssequenzen auch Aufnahmen vom Morgen des 10. November, denn es sind nicht nur rauchende Trümmer, sondern auch die Türme noch mit den Davidsternen zu sehen. Während der Pogrome war also ein Kameramann vor Ort – wer und in wessen Auftrag ist allerdings nicht bekannt.

Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem bietet einen Auszug des mehrminütigen Films:

[https://www.youtube.com/watch?v=S5gYDwArA2U]

Die Zeitzeugen von heute – die Kinder von 1938

Die meisten Zeitzeugen, die mir heute noch von ihren Erlebnissen in den Tagen der Novemberpogrome berichten können, sind hochbetagt. Ich bin unendlich dankbar, dass sie mir doch in so vielen Fällen ein Ohr für meine Fragen schenken und mich in ihre Lebensgeschichten Einblick nehmen lassen.

Die Kinder von 1938

Viele der Menschen, mit denen ich über die Pogrome spreche, waren 1938 noch Kinder, im besten Falle schon 13 oder 14 Jahre alt. Die jüngsten waren gerade einmal vier oder fünf Jahre. Und dennoch haben sich die Erlebnisse vom November 1938 gleichsam in ihr Gedächtnis ‚eingebrannt‘.

Bruchstücke als Teil der Rekonstruktion der Ereignisse

Oft sind es nur kleine Erinnerungssplitter, die im Gedächtnis festgehalten sind: Der Anblick eines brennenden Gebäudes etwa, ein besonderer Ausspruch der Eltern („Die Synagoge brennt“) oder eine andere Wahrnehmung. Auch, wenn sie den Zeitzeugen heute unwichtig erscheinen mögen, so sind es doch gerade diese Erinnerungssplitter, die neue Fragen oder Einsichten in die Pogromereignisse erlauben.

Aus der Sicht eines Jungen

Eine Veränderung nahm auch ein damals gerade zehn Jahre alt gewordener Junge in Dresden wahr, als er wie an den meisten Sonntagen wohl am 14. November 1938 mit in seine Werkstatt in der Nähe des Dresdner Landgerichts begleitete. Auf dem Nachhauseweg durch die Johannstadt, den Vater und Sohn mit dem Rad zurücklegten, habe er an einem Eckgeschäft, vielleicht sogar an zwei Geschäften, mit Brettern vernagelte Schaufenster gesehen. Wo genau, daran erinnerte sich der heute 89-Jährige aber nicht mehr. Gleichwohl bietet diese Erinnerung ein Bruchstück, um auch die Zerstörung der Geschäfte von als ‚Juden‘ Verfolgten für Dresden weiter aufzuarbeiten.