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Die digitale Rekonstruktion zerstörter Synagogen in Sachsen (1): Ein Projekt an der TU Darmstadt

Mit den technischen Möglichkeiten zur Erstellung digitaler Architekturmodelle wurde es ab den 1990er-Jahren möglich, auch zerstörte Synagogen virtuell zu rekonstruieren.

Das Projekt der Technischen Universität Darmstadt

1995 begann das Fachgebiet CAD in der Architektur der Technischen Universität Darmstadt mit der Sammlung von Material zu Synagogenbauten im deutschen Raum. Eine Datenbank erfasste schrittweise über 2.200 Gebäude.

Vor allem aber rekonstruierte das Team um Professor Manfred Koob und Diplomingenieur Marc Grellert mehrere Synagogenbauten, die den Novemberpogromen von 1938 zum Opfer gefallen waren. Ziel war nicht allein, den kulturell-architektonischen Verlust offenzulegen, den die Zerstörung der jüdischen Sakralarchitektur bedeutete. Es ging vielmehr auch um die Frage, inwiefern die digitalen Rekonstruktionen neue Formen des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerung hervorbringen würden.

Sächsische Synagogen in digitaler Rekonstruktion

Unter den rekonstruierten Synagogen finden sich auch drei der 1938 zerstörten jüdischen Glaubensorte in Sachsen: Die Dresdner, Leipziger und Plauener Synagoge. Online können sowohl Außen- als auch Innenarchitektur eingesehen werden.

Im Jahr 2000 präsentierte das Darmstädter Team seine Ergebnisse im Rahmen einer Ausstellung, die nicht nur Bilder, sondern einen filmischen Zugang (3D-CAD-Film) in die rekonstruierten Synagogen erlaubt.

Literaturhinweis:

Grellert, Marc: Immaterielle Zeugnisse. Synagogen in Deutschland, Bielefeld 2007.

Technische Universität Darmstadt, Fachgebiet CAD Architektur in der; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland; Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Synagogues in Germany. A Virtual Reconstruction, Basel/Boston/Berlin 2004.

Zum Anliegen und den Motiven des Darmstädter Forscherteams außerdem:

Synagogenzerstörungen vor den Novemberpogromen 1938

Nicht erst während der Novemberpogrome wurden im Deutschen Reich Synagogen zerstört. Zu den frühsten davon betroffenen jüdischen Kultusbauten zählt die Synagoge in Hildburghausen, die schon 1933 abgerissen wurde. Allein 1938 wurden bis zu den Novemberpogromen mindestens 31 Synagogen geschändet oder zerstört. Nur im September fanden Anschläge auf Synagogen in mindestens einem Dutzend Orten statt, begleitet von antisemitischen Übergriffen.

Die Alte Synagoge in München

Eine der Synagogen, die dem Antisemitismus der Nationalsozialisten zum Opfer fiel, war die Alte Synagoge in München. Der 1887 geweihte Bau wurde vorgeblich aus verkehrstechnischen Gründen enteignet und im Juni 1938 abgerissen.

Die Synagoge am Hans-Sachs-Platz in Nürnberg

In der Stadt der Reichsparteitage wurde ab dem 10. August 1938 die Synagoge am Hans-Sachs-Platz abgerissen. Begründet wurde die Maßnahme mit städtebaulichen Motiven. Noch im Rahmen der Nürnberger Prozesse gegen die deutschen Hauptverantwortlichen von Krieg und Massenmord, verteidigte sich der ehemalige Gauleiter und ‚Stürmer‘-Herausgeber Julius Streicher damit, dass der orientalische Bau angeblich nicht in das mittelalterliche Weichbild der Reichsstadt gepasst habe.

Die Alte Synagoge in Dortmund

In Dortmund wurde die Jüdische Gemeinde zum Verkauf des Grundstücks gezwungen, auf dem sich die Alte Synagoge befand. Noch im Sommer 1938 begann der Abriss des markanten Gebäudes, das 1900 eingeweiht worden war. Im Dezember des Jahres war der Abriss abgeschlossen.

Die Neue Synagoge in Kaiserslautern

Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch die 1886 in Kaiserslautern eingeweihte Neue Synagoge. Auch hier waren es städte- und verkehrsbauliche Gründe, die für den erzwungenen Verkauf des Grundstücks an die Stadt in Stellung gebracht wurden. Nach einem Abschiedsgottesdienst am 29. August erfolgte dann der Abriss des Gebäudes.

Angaben zu den erwähnten Synagogenabrissen im Jahr 1938 sind u. a. entnommen:

Longerich, Peter: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München/Zürich 1998, S. 192 f.

Tabarelli, Petra: Zerstörung von Synagogen vor November 1938, Blogartikel unter 9nov38.de (2013).

Dresden – Berichte von Augenzeugen (5): Die antisemitische Deutung der Ereignisse in der Zeitung Der Freiheitskampf

Die von Leo Jehuda Schornstein beschriebene und erduldete Demütigung nahm sich in den offiziellen Presseorganen natürlich gänzlich anders aus. Die wüsten antisemitischen Vorwürfe, die den sogenannten ‚spontanen Volkszorn‘ rechtfertigen sollten, entbehrten dabei jeglicher Grundlage.

Das Geschehen in Dresden aus der Sicht eines Mitarbeiters der nationalsozialistischen Zeitung Der Freiheitskampf

Der Freiheitskampf, das seit 1930 erscheinende Organ der Nationalsozialisten in Dresden, publizierte am 11. November 1938 einen umfangreichen Artikel zum Brand der Dresdner Synagoge. Darin fanden auch die Ereignisse des 10. November Aufnahme – im Gegensatz zu Schornsteins Bericht jedoch in völlig konträrer Sichtweise.

So heißt es darin:

„Mit Windeseile verbreitete sich am Donnerstag in den frühen Morgenstunden die Nachricht von diesem Brand [der Synagoge]. Zu Tausenden säumte bald darauf eine erregte Volksmenge die rauchende Stätte, in der fast hundert Jahre lang Rachelitaneien gegen alle ‚Gojm‘ zu Jahwe emporgestiegen sind. Schon seit langem wurde dieser Ort der Talmudanbeter auch in baulicher Hinsicht als ein Schandfleck in unserer schönen Stadt empfunden, um so mehr, als sich widerliche Juden bis in die allerletzte Zeit auf dem Platz davor noch allzuoft ‚mausig‘ machten. Es war daher auch nicht verwunderlich, daß die Bevölkerung Dresdens schon lange mit Ekel und Abscheu hier am Zeughausplatz zwischen Hasenberg und altem Gondelhafen vorüberging.

Am Donnerstagvormittag wurden die Jahwediener aus dem Rabbinerhaus geholt und veranlaßt, die mit dem Davidstern versehenen Attribute ihrer Talmudlehren aus der Synagoge herauszuräumen. Die feige dienernde Judensippschaft benahm sich angesichts der empörten Volksmenge ekelerregend. Bei aller angesichts des ungeheuerlichen Verbrechens der jüdischen Mordpest an unserem Parteigenossen vom Rath nur zu begreiflichen Wut begnügte sich die Menge damit, dem Judengesindel ihre Verachtung ins Gesicht zu schreien. Es machte sich aber notwendig, diese feige Sippschaft in Schutzhaft zu nehmen“ (Der Freiheitskampf, 311 (11.11.1938), 5).

Die darin erhobenen antisemitischen Vorwürfe sowie die rhetorische Begründung von Gewalt und Demütigung der Verfolgten hatten vor allem den Zweck, die Taten zu rechtfertigen und deren ideologische Grundlagen in der Bevölkerung weiter zu verbreiten. Als alleinige Quellengrundlage sind die zentral gesteuerten Pressemitteilungen zu den Ereignissen deshalb hoch problematisch: Sie enthalten nicht nur zahlreiche antisemitische Begrifflichkeiten (hier: ‚Talmudanbeter‘, ‚jüdische Mordpest‘ u. a. m.). Vielmehr geben sie auch eine, in hohem Maße im Sinne des Regimes manipulierte Sicht auf die Novemberpogrome wider. Einordnung und Kontextualisierung dieses und anderer Zeitungsberichte sind deshalb unbedingt erforderlich.

Nichts gewusst? – Die Zeitungen berichten

Auch jene, die die Ereignisse in Dresden (und andernorts) nicht erlebt hatten, erhielten durch diesen und weitere Berichte in anderen Blättern ein offizielles Bild des Geschehenen. Sie wurden so zu Mitwissern der Pogromgewalt.

Dresden – Berichte von Augenzeugen (4): Leo Jehuda Schornstein, Sekretär der Jüdischen Gemeinde

Zu den immer wieder zitierten Augenzeugenberichten von den Pogromereignissen am 10. November 1938 in Dresden gehört der Bericht von Leo Jehuda Schornstein (Schornstein, Leo Jehuda: Erlebnisbericht aus Dresden, in: Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau (Hg.): Die Reichskristallnacht. 9. November 1938. 9. November 1988. 4., erw., Heppenheim 1988, S. 48 f.). Der Sekretär der Dresdner Jüdischen Gemeinde wurde am 10. November bei seiner Ankunft im Gemeindehaus in der Zeughausstraße festgesetzt.

Öffentliche Demütigung

Zusammen mit anderen wurde Schornstein in den Anbau der zerstörten Synagoge geführt, um jüdische Kultgegenstände herauszuholen. Was dann geschah, schilderte er in seinem Bericht:

„Nach dem Ausräumen des Tresors bekamen wir den Befehl, den Wäschekorb mit den Wertgegenständen durch den Synagogenhof in das Gemeindeamt zu bringen. Die Menschenmenge, die sich auf 2000 Personen angesammelt hatte, begann zu gröhlen und drohende Haltung anzunehmen, als sie uns Juden sahen. Nach dem Abstellen des Korbes wurden wir wieder zu viert in den Synagogen-Anbau gebracht, wo wir unversehrte Thorarollen […] herausnehmen mußten. […]. Bevor man uns aber auf die Straße brachte, zog man uns Thoramäntel über den Kopf, band uns Schürzen der Kinder des dort befindlichen Kinderhortes um den Hals und stülpte uns Zylinderhüte der Synagogenvorsteher auf den Kopf, indem man mit einem Schlag die Hüte zusammendrückte, was einen makaberen, seltsamen und erniedrigenden Eindruck darstellte“ (S. 48).

Die Szene, von der auch Otto Griebel, berichtet, ist im Foto festgehalten, das sich im Archiv der Jüdischen Gemeinde zu Dresden befindet. Schornstein war wohl der Herr mit der Brille, neben ihm mit Hut zu sehen ist Rolf Pionkowski. Bei dem Herrn im hellen Mantel links im Bild handelt es sich um Johannes Clemens, den Leiter des Sicherheitsdienstes der SS (kurz: SD), Hauptaußenstelle Dresden – einer der Täter. Die Identität der Person mit dem über den Kopf gezogenen Thoramantel ist bislang nicht eindeutig geklärt.

Drangsalierung im Gemeindehaus

Schornstein schilderte auch jene Dinge, die sich im Gemeindehaus abspielten. Dazu gehörten etwa ‚Turnübungen‘ und die Zurschaustellung am geöffneten Fenster zur ‚Belustigung‘ der Menge. Darüber schrieb er:

„Mir wurde ein Gebetsmantel über den Kopf gestülpt, man gab mir zwei silberne Thorakronen in die Hand, schob mich an das zur Straße führende Fenster und ’schaukelte‘ mich mit Schlägen im Fenster hin und her, wobei die unten stehende Volksmenge in frenetisches Johlen ausbrach. Diese Prozedur mußte ich noch auf einem Stuhl stehend mehrmals wiederholen, wobei sich der Mob auf der Straße noch mehr ergötzte“ (S. 48 f.).

Auch von dieser Erniedrigung sind inzwischen Fotografien bekannt. Diese zeigen auch die von Schornstein oben erwähnten Schürzen des Kinderhorts, die einen Teil des Demütigungsrituals bildeten.

Schornsteins Bericht kann unter anderem hier (Word-Dokument) nachgelesen werden.

Dresden – Berichte von Augenzeugen (3): Kurt Zscheile

Auch der 1920 geborene Korbmachermeister Kurt Zscheile erlebte den Brand der Dresdner Synagoge. In einem kleinen Beitrag (abgedruckt in: Jacoby, Petra: Leben in Dresden. 1920 – 1990, Erfurt 2000, S. 19 f.) findet sich dazu eine kurze Reminiszenz.

Die brennende Synagoge

Zscheile erinnerte sich:

„Ich hab‘ gesehen, wie die Synagoge brannte. Ich hab‘ früh gerade einen Weg gemacht, von der Lehre aus, und da hab‘ ich dann auf der Brücke gestanden und hab‘ das gesehen, wie die brannte. Damals hat man ja noch gar nicht gewußt, daß das Brandstiftung war. Damals hab‘ ich vielleicht gedacht, das ist eine Brandursache oder was gewesen. Daß das dann Brandstiftung war, das haben wir erst später erfahren – die haben das ja auch nicht zugegeben“ (S. 20).

Zerstörte Schaufenster auf der Prager Straße

Auf der Prager Straße sah Zscheile auch eingeschlagene Schaufensterscheiben und mit antisemitischen Losungen beschmierte Geschäfte. Es ist jedoch nicht gänzlich sicher – auch wenn die zerstörten Scheiben dafür sprechen –, dass hier ein direkter Bezug zu den Pogromereignissen besteht.

Zscheile selbst kann zu alledem leider nicht mehr befragt werden: Er verstarb 2012 im Alter von 92 Jahren.

Dresden – Berichte von Augenzeugen (2): Wieland Förster

Auch der 1930 geborene Bildhauer Wieland Förster wurde in Dresden Zeuge der Pogrome. Das Erlebte hielt er in einer 2012 erschienenen Autobiografie zu seinen Jugendjahren fest (Förster, Wieland: Seerosenteich. Autobiografie einer Jugend in Dresden 1930-1946, Dresden 2012).

Mit der Mutter zur Brandruine der Dresdner Synagoge

Wieland verbrachte seine Kindheit in Laubegast. Für den 10. November 1938 erinnert er sich an folgende Begebenheiten:

„An einem grauen Novembermorgen – ich bin mir nicht sicher, ob es ein Schultag war – weckte mich meine Mutter früher als üblich. Außer sich drängte sie zur Eile: ‚Mach schnell Junge, wir müssen in die Stadt.‘ […].

Über Laubegast, der nur in Hochwasserzeiten klar umrissenen Insel, und den durchfahrenen Vorstädten Tolkewitz und Striesen lag dichter Nebel. Die Straßen verzweigten sich bedrückend leer und verlassen, was besonders hinter dem Fürstenplatz, der zunehmend dichter bebauten Innenstadt, auffiel. In den engen Gassen der Trödler und Handwerksbetriebe hingen die Nebelschwaden wie feine Stores zwischen den Fassaden. In anderen Vierteln glaubte ich bläuliche Rauchfahnen wehen zu sehen, aber geschützt vom eisernen, über die Gleise rumpelnden Waggon tat sich diese Wahrnehmung als Zeichen meiner Ermüdung ab. Kurz vor der Haltestelle ‚Amalienbrauerei‘. Richtung ‚Pirnaischer Platz‘ zog sich meine Mutter, als stünde sie unter Beobachtung, auf den hinteren Perron zurück. Sie spähte, seltsam verwirrt, in die links und rechts abgehenden Straßen und sprang, sobald die Straßenbahn hielt, mich nachziehend, auf das feucht glänzende Pflaster hinab. Der aufsteigende Neben war von ätzendem Brandgeruch durchsetzt. Die Tore der Brauerei standen, bestimmt wie an allen Tagen zuvor, weit offen. Im Hof klirrten die Ketten der schon angeschirrten Kaltblüter. Doch die Kutscher bewegten sie nicht, keine Käufer drängten sich vor den menschenleeren Fassausgaben, und die verödeten Wirtshausstuben flößten mir Furcht ein.

Wie ein kleiner Junge ging ich langsam und unsicher an der Hand meiner Mutter, von wachsender Neugier ergriffen, die Schaufenster der anliegenden Geschäfte ab, bis zur breiten Straßenauffahrt der ‚Carolabrücke‘, eingeschüchtert von den ungeheuerlich großen Schemen der aufsteigenden Flusspferdegruppen. Nach Überquerung der breiten Straßen und Schienen standen wir bald vor einer hohen Mauer. Hinter den vergitterten Durchbrüchen schwamm in unklaren Konturen, mehr fleckenhaft, ein parkähnliches, vom schwelendem Rauch verdunkeltes Areal, das, als Windböen den undurchdringlichen Qualm zerrissen, den Blick auf die rauchende Ruine eines kirchenähnlichen Gebäudes freigab. Ausgesperrt standen wir vor einem aus Eisenspeeren gefügten Tor fröstelnd im Sprühregen, unwissend in Haft genommen von einer unfassbaren Macht, deren Botschaft die pure Angst war.

In dieser Stunde verbot sich jede Frage, jedes dahingeflüsterte Gespräch zwischen und – nur unerträgliches Schweigen und die Gewissheit totalen Vertrauens. Meine Mutter, die Unpolitische, hatte den Mut gehabt, mich am Morgen nach der ‚Kristallnacht‘ zum Zeitzeugen der niedergebrannten Synagoge zu machen.

Von da an beherrschte zu allen Tages- und Nachtzeiten der aufgeputschte Mob die Bürgersteige der Geschäftsstraßen. Das Ereignis dieser Nacht ging als leises, aber unüberhörbares Signal für die Auslöschung der nachbarlich lebenden Juden übers Land und in die Welt. Im Schatten dieser Vergangenheit kann ich meinen Geburtsort nicht vor der Welt entlasten“ (S. 27 f.).

Dresden – Berichte von Augenzeugen (1): Otto Griebel

Die wohl bekannteste und viel zitierte Schilderung eines Zuschauers der Dresdner Pogromereignisse des 10. November 1938 stammt von dem Maler Otto Griebel.

An der Synagoge

Den 10. November 1938 schilderte Griebel wie folgt:

„Ende Oktober [1938] erhielt ich durch den ‚Sächsischen Künstlerhilfsbund‘ abermals einen Erholungsaufenthalt für die Zeit vom 10. November bis zum 2. Dezember; wiederum in Grillenburg. Ich befand mich bereits beim Packen meines Koffers, als der Briefträger erschien und berichtete, in der Stadt seien jüdische Geschäfte von SA-Leuten zerstört und in der Nacht die Synagoge angebrannt worden.

Zuerst wollte ich dies gar nicht glauben, aber aus dem Fenster meines Ateliers konnte ich ja fast die gesamte Innenstadt überblicken, und richtig: in der Nähe des Terrassenufers stieg dünner, schwarzer Rauch hoch. Ich machte mich auf, um selbst zu sehen, was geschehen war. Mein Weg führte über die Bürgerwiese und Ringstraße zum Pirnaischen Platz, schließlich zur Synagoge, die ausgebrannt und noch rauchend dastand. Daneben gewahrte ich zwei der großen modernen Motorspritzen, deren Besatzungen inmitten einer großen Gaffermenge untätig herumsaßen. In der Menge entdeckte ich auch einen kleinen, alten Fürsorgeempfänger, ein bärtiges Männlein, dem Franz Hackel und ich den Namen ‚Der Diogenes von Dresden‘ gegeben hatten, weil er immerfort am Elbestrand in der Sonne lag und alles verfolgte, was in der Stadt so vor sich ging. Wir waren vom ‚Stempelpark‘ her gute Bekannte, und als mich der Alte nun erblickte, meinte er fast beschwörend und mit blitzenden Augen: ‚Dieses Feuer kehrt zurück. Es wird einen großen Bogen gehen und wieder zu uns kommen!‘ Dann entschwand er.

Inzwischen hatten einige uniformierte SA-Leute einige völlig verstört blickende und totenbleiche jüdische Lehrer aus dem nahen israelitischen Gemeindehaus hervorgeholt, ihnen verbeulte Zylinder auf die Köpfe gedrückt und sie vor der johlenden Menge aufgestellt, vor der die Unglücklichen sich auf Befehl hin tief verbeugen und die Hüte von den Köpfen ziehen mußten.

Einem gepflegt aussehenden, grauhaarigen Passanten, der den Eindruck eines Schauspielers machte, war das Geschehene zuviel und voller Empörung rief er laut aus: ‚ Unglaublich, das ist ja schlimmstes Mittelalter!‘ Aber kaum hatte er dies geäußert, griffen in auch schon anwesende Gestapobeamte und nahmen ihn mit“ (Griebel, Otto: Ich war ein Mann der Strasse. Lebenserinnerungen eines Dresdner Malers, Halle/Leipzig 1986, S. 400-402).

Über die Prager Straße

Anschließend spazierte Griebel weiter durch die Stadt:

„Über den Neumarkt begab ich mich zur Schloßstraße und lief von dort die Seestraße und Prager Straße entlang, in denen mehrere jüdische Geschäfte waren, deren Schaufenster allesamt in der vergangenen Nacht von SA eingeschlagen und ausgeplündert worden waren. Jetzt sah man an manchen Läden Glaser die Bruchstücke aus den Rahmen entfernen. Immerfort trat man auf Glassplitter. Ich beobachtete, wie zwei gutgekleidete Passanten beim Photographieren von Kriminalbeamten angehalten wurden und ihre Filme weggenommen bekamen.

Plötzlich klang von fern her der sich rasch nähernde Ruf: ‚Wir danken unserm Führer! Juda verrecke! Deutschland erwache!‘ Und dann er schien, starr geradeaus glotzend und mit vorgestrecktem Arm, ein stadtbekanntes Original, das ‚Seifen-Franke‘ genannt wurde, weil er mit Seife hausierte. Wie es hieß, soll Franke im ersten Weltkrieg einen Kopfschuß und deshalb später den Paragraphen 51 erhalten haben. Manche hielten ihn für harmlos idiotisch, andere für gar nicht dumm und eher verschlagen. Ich hörte nur, wie von zwei älteren Herren der eine grinsend zum anderen sagte: ‚Dem hat sicher einer zwei Mark zugesteckt und aufgetragen, das zu brüllen.‘ Tatsächlich blieb ‚Seifen-Franke‘ von den vielen Polizeibeamten unbehelligt.

Was da geschah, war furchtbar. Ratlos fuhr ich am Nachmittag nach Grillenburg“ (S. 402 f.).

Interessant ist hierbei auch Griebels Beobachtung, dass einer Person, die beim Fotografieren entdeckt wurde, die Filme abgenommen worden seien. Sie zeigt zweierlei: Zum einen, dass die Pogromtäter grundsätzlich daran interessiert waren, Bildmaterial möglichst zu verhindern; zum anderen aber eben auch, dass es Menschen gab, die auch von den zerstörten Dresdner Geschäften fotografische Aufnahmen machten. Es ist anzunehmen, dass sich deshalb noch Aufnahmen, die nicht konfisziert wurden, in privaten Fotoalben befinden.

Die Quellen (1): Zeitzeugenberichte

Eine wichtige Quelle für jeden, der sich mit den Novemberpogromen (oder anderen historischen Ereignisse) auseinandersetzen möchte, sind die Aussagen von Zeitzeugen. Deren Selbstzeugnisse erlauben, die öffentliche Überlieferung in Archiven und Bibliotheken durch den persönlichen Blick wie die individuelle Wahrnehmung zu bestätigen, zu ergänzen oder in Frage zu stellen.

Die Perspektive der Augenzeugen: Die Verfolgten

Die von der Gewalt Betroffenen, Zuschauer und Tatbeteiligten erlebten die Ereignisse dabei aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven. Die als ‚Juden‘ Verfolgten schrieben nicht selten kurz nach den Ereignissen oder auch erst im Alter ihre Erlebnisse nieder, um diese in der Erinnerung präsent zu halten, das erlebte Grauen zu dokumentieren oder zu verarbeiten. Institutionen, wie die Wiener Library, das Leo Baeck Institute und Yad Vashem, sammelten solche Berichte systematisch und stellten sie der Forschung zur Verfügung.

Die Täter

Täter hingegen kamen vielfach, wenn überhaupt, erst in den nach Kriegsende erfolgenden gerichtlichen Untersuchungen zu den Pogromen zu Wort. Ihre Prozess- und Vernehmungsaussagen schilderten dann in erster Linie ihre Sicht der Dinge und Verantwortung angesichts drohender Bestrafung.

Teilweise sind ihre Tatbekenntnisse auch von Dritten überliefert, wenn sie sich etwa vor anderen ihrer Beteiligung an den Pogromen gebrüstet hatten.

Oft blieb aber auch das Schweigen. Viele Täter wurden nicht zur Verantwortung gezogen oder konnten aufgrund verstrichener Verjährungsfristen nicht mehr gerichtlich belangt werden. Nicht selten lebten sie weiter in jenen Orten, in denen sie an Pogromen beteiligt waren.

Die Zuschauer

Berichte und Fotografien belegen, dass die Pogromhandlungen zumindest am 10. November in der Regel zahlreiche Zuschauer anzogen. Diese verfolgten die Ereignisse mit unterschiedlichen Gefühlen – von offener Zustimmung bis hin zur Ablehnung. Ihre Berichte fanden ebenfalls in autobiografische Schriften oder auch in Leserbriefe an Zeitungen Eingang, vor allem in den letzten drei Jahrzehnten – in einer Phase also, in der die Novemberpogrome auch in Sachsen stärker in den Fokus der öffentlichen Erinnerung gerückt waren.

Quellenkritik

Bei allen Berichten (wie auch den sonstigen Quellen) ist es wichtig, sie in ihren Kontext und ihre Entstehungszeit zu stellen. So spiegeln etwa nicht alle Erinnerungen die historischen Tatsachen oder den Ablauf der Ereignisse korrekt wider oder weisen Ungenauigkeiten auf, die in den Blick genommen werden müssen. Um ein annähernd genaues Bild der Pogromereignisse vor Ort zu erhalten, gilt es deshalb, die verfügbaren Zeitzeugenaussagen mit amtlichen Quellen, Zeitungsberichten, den Fotografien und natürlich auch der bereits vorhandenen Forschungsliteratur abzugleichen.

Pogrom|Gewalt (2): Die „Sudetenkrise“ im Spätsommer 1938

Um frei von den Entwicklungen in Mitteleuropa berichten zu können, ging der Journalist George Eric Rowe Gedye nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs im März 1938 nach Prag.

Die ‚Sudetenkrise‘

In der Tschechoslowakei wurde Gedye Zeuge der Ereignisse der vom nationalsozialistischen Deutschland geschürten Krise um das sogenannte ‚Sudetenland‘, das schließlich nach dem Münchner Abkommen ins Deutsche Reich eingegliedert wurde.

Antijüdische Gewalt

Mit der ‚Sudetenkrise‘ einher ging in Gebieten mit hohem volksdeutschen Bevölkerungsanteil massive Gewalt gegen tschechische und jüdische Geschäfte sowie politische Gegner.

Gedye berichtet so von einer Fahrt ins ‚Sudetenland‘:

„Die Hauptstraßen von Karlsbad waren mit den Scherben zerbrochener Auslagescheiben übersät. Jedes Geschäft, das ein tschechisches oder jüdisches Firmenschild trug, hatte die Scheiben eingebüßt; die meisten Auslagen waren geplündert worden. […] Als ich die Verwüstung in einem Geschäft photographieren wollte, stellten sich zwei Henlein-Buben von ungefähr siebzehn Jahren zwischen meine Kamera und die Auslage, um mich am Photographieren zu hindern. Als ich zu ihnen sagte: ‚Eure Gesichter werden sich auf der Aufnahme sehr gut neben diesem Musterexemplar deutscher Kultur ausnehmen‘, verschwanden sie. […].

Heute schien nicht ein einziger der bescheidenen jüdischen Läden dieses Ortes unversehrt aus dem Sturm der vergangenen Nacht hervorgegangen zu sein“ (Gedye, George E. R.: Als die Bastionen fielen. Die Errichtung der Dollfuß-Diktatur und Hitlers Einmarsch in Wien und den Sudeten, Wien 1981, S. 390 f.).

Auch in weiteren Orten sah Gedye zerstörte Geschäfte. Sein Urteil über den Ablauf der Gewalt hielt er ebenfalls in seinem Buch fest:

„Die [gemeint sind die Anhänger Konrad Henleins] begannen ganz methodisch alle tschechischen, jüdischen oder deutschdemokratischen Geschäfte zu zerstören und jeden politischen Gegner, der ihnen unter die Hände kam, zu mißhandeln. In manchen Städten waren die Geschäfte ausgeraubt worden, in anderen hatte der Kommandant der Sturmtruppen nach dem Befehl, die Auslagen zu zertrümmern, zwei Sturmtruppmänner mit dem Auftrag postiert, Plünderungen zu verhindern“ (S. 395).

Pogromgewalt vor dem Novemberpogrom

Die geschilderte Gewalt und Zerstörung – sowohl in Österreich als auch in der Tschechoslowakei – nahm in ihren Mitteln und Ausprägungen damit bereits vieles von dem vorweg, was die Novemberpogrome flächendeckend für das gesamte Deutsche Reich bedeuten sollten. Insofern waren die Pogrome um den 9./10.November 1938 zwar schon eine Zäsur in der nationalsozialistischen Judenpolitik. Gleichzeitig standen sie jedoch auch in der Kontinuität kollektiver antisemitischer Gewalt der Vormonate.

Pogrom|Gewalt (1): Der „Anschluss“ Österreichs im März 1938

Die Novemberpogrome waren 1938 nicht die ersten koordinierten Gewaltexzesse, die sich ausdrücklich gegen als ‚Juden‘ verfolgte Menschen richteten. Neben alltäglichen Übergriffen kam es bereits im März und April im Zuge des sogenannten ‚Anschlusses‘ von Österreich – tatsächlich die faktische Annektierung und Besetzung des Landes, die gleichwohl von vielen Österreichern begrüßt wurde – zu Pogromen.

Die Anschlusspogrome in Österreich

Seit Mitte der 1920er-Jahre berichtete aus Wien der Korrespondent George Eric Rowe Gedye von den Entwicklungen in Österreich. Gedye schrieb unter anderem für die New York Times. Er beobachtete den ‚Anschluss‘ und erlebte die in Wien gegen als ‚Juden‘ Verfolgte gerichtete Gewalt. Seine Wahrnehmungen verarbeitete er in einem Buch, dass zuerst 1939 in England, 1940 in den USA und schließlich 1947 als deutsche Ausgabe in Wien erschien (Gedye, George E. R.: Als die Bastionen fielen. Die Errichtung der Dollfuß-Diktatur und Hitlers Einmarsch in Wien und den Sudeten, Wien 1981).

„Reibepartien“ – Die antisemitische Gewalt in Wien

Darin heißt es unter anderem

„Von meinem Büro am Petersplatz konnte ich auch Wochen hindurch den Lieblingssport des Nazimobs beobachten: jüdische Männer und Frauen wurden gezwungen, auf allen vieren kriechend, den Gehsteig mit einer scharfen Lauge zu reiben, die ihnen die Haut verbrannte, so daß sie sich sofort in Spitalsbehandlung begeben mußten“ (S. 294).

Mit diesen ‚Reibepartien‘ einher gingen öffentliche Demütigungen, die Beschmierung von Geschäften und weitere Gewaltexzesse. Der Historiker Dieter Hecht hat nicht nur auf den daraus resultierenden Anstieg der Selbstmordrate um das Vierfache hingewiesen, sondern auch hervorgehoben, dass die NS-Behörden zwar bereits am 14. März erstmals einschritten, eine wirkliche Unterbindung der Ausschreitungen dann allerdings erst Ende April 1938 durch Gauleiter Josef Bürckel versucht wurde (siehe: Hecht, Dieter: Demütigungsrituale – Alltagsszenen nach dem „Anschluss“ in Wien, in: Welzig, Werner (Hg.): „Anschluss“. März/April 1938 in Österreich, Wien 2010, 39–71, hier: S. 42 f.).

Die ‚Anschlusspogrome‘ hatten auch die Verdrängung der Verfolgten aus ihren Geschäften und Unternehmen sowie eine große Fluchtwelle zur Folge, die wiederum eine Verschärfung der Einreisebedingungen in mehreren Aufnahmeländern nach sich zog und die Emigration von als ‚Juden‘ Verfolgten aus dem Deutschen Reich erschwerte.