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Die Auslösung der Pogrome (4): Der Funkspruch von Orpo-Chef Kurt Daluege (1897-1946)

Neben der Sicherheitspolizei bildete die uniformierte Ordnungspolizei (Orpo), also Gendarmen und lokale Polizeistrukturen, 1938 die zweite Säule der deutschen Polizei. Seit 1936 stand der Orpo Kurt Daluege vor, der nach dem Ausbruch der Pogromgewalt ebenfalls Anweisungen an die Polizeidienststellen durchgab.

Der Funkspruch der Orpo, 10. November 1938, 6:30 Uhr

Dalueges Funkspruch kam erst einige Zeit nach Heydrichs Anweisungen am Morgen des 10. November in den Polizeidienststellen an. Er forderte diese auf, sich angesichts der „spontanen Demonstrationen und Aktionen gegen Juden“ mit den zuständigen Sicherheits- und Parteidienststellen in Verbindung zu setzen. Die Orpo solle die ‚Aktionen‘ nur „mit schwachen Kräften in Zivil“ begleiten, um eventuelle Plünderungen und Brandlegungen zu verhindern. Verhaftungen nehme allerdings nur die Sicherheitspolizei, also Gestapo und Kriminalpolizei, vor.

Sicherungsmaßnahmen

Die lokalen Polizeidienststellen erhielten zudem Anweisung, zerstörte Geschäfte und Wohnungen zu sichern, zu versiegeln oder zu bewachen.

Abgedruckt in: Kropat, Wolf-Arno: „Reichskristallnacht“. Der Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938, Wiesbaden 1997, S. 216 f..

Die Auslösung der Pogrome (3): Das Fernschreiben von Sipo-Chef Reinhard Heydrich (1904-1942)

Um 1:20 Uhr am 10. November sendete Reinhard Heydrich, der SS-Gruppenführer und Chef der Sicherheitspolizei, aus München ein Blitz-Fernschreiben an alle Staatspolizei(leit)stellen, SD-Ober- und Unterabschnitte. Heydrich war von der Auslösung der Pogrome durch Goebbels überrascht worden und bemühte sich zunächst um Rücksprache mit Heinrich Himmler, der allerdings erst nach 24 Uhr, dem Zeitpunkt der Vereidigung der SS-Rekruten in München im Kontext der Feierlichkeiten zum 9. November, reagieren konnte.

Das Blitz-Fernschreiben

Ausführlicher als Müller präzisierte Heydrich, dass sich die Sicherheitspolizei mit den politischen Leitungen der NSDAP und der Ordnungspolizei abzusprechen habe. Nur Maßnahmen, die deutsches Leben und Eigentum nicht gefährdeten, dürften ergriffen werden. Geschäfte und Wohnungen dürften nur [sic!] zerstört, aber nicht geplündert werden. Ausländer, auch wenn diese Juden seien, dürften nicht behelligt werden.

Auch Heydrich ordnete an, dass Archivmaterial der jüdischen Gemeinden zu beschlagnahmen und an die SD-Dienststellen abzugeben sei, denen die politische Gegnerbekämpfung oblag. Außerdem sollten so viele gesunde männliche Juden festgenommen und in Konzentrationslager überstellt werden, wie möglich.

Heydrichs Fernschreiben konkretisierte mithin die von Heinrich Müller herausgegebenen Anweisungen, die für die Sicherheitspolizei – also auch die Gestapo – und den Sicherheitsdienst (SD) der SS galten.

Abgedruckt in: Kropat, Wolf-Arno: „Reichskristallnacht“. Der Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938, Wiesbaden 1997, S. 214-216.

Der Volltext des Fernschreibens findet sich auch unter: http://digitalpast.de/2013/11/09/blitz-fernschreiben-heydrichs-vom-10-november-120-uhr/

Die Auslösung der Pogrome (2): Das Fernschreiben von Gestapa-Chef Heinrich Müller (1900-1945)

Obwohl die Ausweitung der Pogromgewalt erst nach zentraler Zustimmung Hitlers erfolgte, liefen ab dem Abend des 9. November 1938 ganz verschiedene Anweisungen und Befehle an die unterschiedlichen Gruppierungen von Staat und Partei. Diese benötigten wiederum unterschiedlich lange, um über die zentralen Dienststellen bis zu den untergeordneten und lokalen Befehlsempfängern durchzudringen. Es gab deshalb auch in Sachsen Fälle, wo etwa Polizisten und Feuerwehrleute zunächst ganz normal ihren Dienst versahen: Sie versuchten trotz der Bedrohung zu löschen oder nahmen Gewalttäter zumindest vorläufig fest – bis sie von den offiziellen Anweisungen Kenntnis erhielten, sich soweit als möglich zurückzuhalten.

Gestapa-Fernschreiben, 9. November 1938, 23:55 Uhr

Kurz vor Mitternacht schickte der stellvertretende Chef des Amtes Politische Polizei im Hauptamt Sicherheitspolizei, Heinrich Müller in Berlin, ein Geheimes Fernschreiben an alle Staatspolizei(leit)stellen. Darin kündigte er an, was vielerorts bereits Realität war: „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen die Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören.“

Es solle lediglich im Zusammenspiel mit der Ordnungspolizei dafür gesorgt werden, dass Plünderungen und besondere Ausschreitungen unterblieben. Außerdem sei Archivmaterial, sofern wichtig, zu beschlagnahmen und die Festnahme von 20.000 bis 30.000, vor allem vermögenden Juden vorzubereiten.

Verfügungstruppen der SS und die Allgemeine SS könnten zur Gesamtaktion hinzugezogen werden.

Reaktion auf den Ausbruch der Gewalt

Das Fernschreiben kann als Reaktion auf den Ausbruch der Gewalt gesehen werden und sollte den örtlichen Gestapo- und Polizeistellen als Handlungsanweisung dienen. Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei, zu der die Gestapo gehörte, reagierte erst eineinhalb Stunden später mit einem eigenen Fernschreiben. Er hielt zunächst noch Rücksprache mit Heinrich Himmler in München.

Abgedruckt in: Kropat, Wolf-Arno: „Reichskristallnacht“. Der Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938, Wiesbaden 1997, S. 213 f.

Der Volltext des Fernschreibens findet sich auch unter: https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/xsrec/current/2/sn/edb?q=YToxOntzOjQ6InplaXQiO3M6OToiOS4xMS4xOTM4Ijt9

Beschmierte Schaufenster in Kamenz?

Von vielen sächsischen Orten, in denen als ‚Juden‘ verfolgte Menschen lebten oder Eigentum besaßen, ist oft nur wenig über die Verfolgung und auch über die Pogrome bekannt. Dies liegt auch daran, dass häufig andere Schwerpunkte für die Lokalgeschichte gesetzt oder die Zeit des Nationalsozialismus bewusst kaum berührt wurde.

Der Fall der Stadt Kamenz

Dass es nicht immer leicht ist, die Pogromereignisse für Sachsen zu rekonstruieren und bestätigen, zeigt auch der Fall der Stadt Kamenz. Dort beschäftigte sich 1990/1991 der Lehrer und Heimatforscher Günter Vogelsang mit der Geschichte der Juden. In einer mehrteiligen Artikelreihe in der Lokalausgabe der Sächsischen Zeitung berichtete er auch über die Ausgrenzung und Verfolgung in Kamenz nach 1933.

Ein Pogrom in Kamenz?

Im 18. Teil der Serie, die am 12./13. Januar 1991 erschien, ging Vogelsang auch auf die Pogromereignisse von 1938 ein. Neben der allgemeinen Einordnung und Darstellung enthält der Artikel genau einen Satz zum Geschehen vor Ort: „In Kamenz wurden die Geschäftsfenster der jüdischen Geschäfte ‚nur‘ beschmiert“ – also im Gegensatz zu vielen anderen Orten nicht eingeschlagen. Welche Geschäfte genau betroffen waren und was an die Schaufenster geschmiert worden war, lässt der Artikel offen.

Es war bislang nicht möglich, mehr darüber zu erfahren, ob und was sich um den 9./10. November 1938 in Kamenz abspielte. Bislang ließen sich die geschilderten Beschmierungen nicht durch andere Quellen belegen. Das ‚Kamenzer Tageblatt‘ berichtete am 11. November 1938 zwar von den Pogromen in Leipzig und Dresden. Lokale Ereignisse wurden – im Gegensatz zu anderen Lokalzeitungen, die solche eigentlich fast immer aufnahmen – nicht benannt.

Es ist deshalb durchaus möglich, dass die Beschmierungen im Kontext anderer antisemitischer Maßnahmen standen, vor allem dann, wenn Zeitzeugen diese nicht mehr sicher zuordnen konnten. Eine Frage also, die Anregung zu weiterer Forschung geben kann.

Quelle: Vogelgesang, Günter: Juden an der hohen Straße [Kamenz], in: Sächsische Zeitung (Kamenz), (12/13.01.1991), S. 15.

Der Abriss der Pogromruinen (4): Abbruch-Unger in Chemnitz

In Chemnitz war die Firma Abbruch-Unger am Abriss der Synagogenruine am Stephansplatz beteiligt. Auch hier nahm die Technische Nothilfe Sprengarbeiten vor. Zusätzlich waren städtische Angestellte im Schichtbetrieb beim Abbruch im Einsatz.

Die unbekannte Firma?

Zu Abbruch-Unger habe ich bislang keine weiteren Informationen. Fotografien vom Abriss der Synagoge zeigen auch LKW-Anhänger, die die Aufschrift des Unternehmens tragen, das 1897 gegründet worden war.

Hier scheint es deshalb lohnenswert, noch einmal genauer zu recherchieren, wie es zu der Beteiligung der Firma kam und welche Rolle sie sonst im Chemnitz dieser Zeit spielte.

Der Abriss der Pogromruinen (3): Hermann Friedrich Seydel in Leipzig

In Leipzig übernahm die Firma Hermann Friedrich Seydel den Abbruch der beiden Synagogenruinen in de Gottschedstraße und der Otto-Schill-Straße.

Verkauf des Baumaterials

Wie Mätschke in Dresden verkaufte auch Seydel das beim Abriss gewonnene Baumaterial weiter: In einer Zeitungsanzeige warb er für 200.000 Mauersteine, die für 15 Reichsmark pro 1.000 Stück zu haben seien.

Er machte dabei keinen Hehl daraus, woher die Steine stammten: Ausdrücklich nennt die Zeitungsanzeige die beiden während des Pogroms zerstörten Synagogen.

Der Abriss der Pogromruinen (2): Firma Mätschke in Dresden

In Dresden nahm die Technische Nothilfe die Spreng- und Abbrucharbeiten vor, die in einem sogenannten ‚Lehrfilm‘ festgehalten wurden.

Der Abbruchunternehmer im Dienste des Staates

Der eigentliche Abbruch sowie der Abtransport und die Weiterverwertung des gewonnenen Materials oblagen der Firma Heinrich Mätschke. Die Firma, die auch in die Altstadtsanierung eingebunden war, hatte hierfür ursprünglich gerade einmal 4.800 Reichsmark verlangt. Im Januar 1939 forderte das Unternehmen dann über 13.000 Reichsmark von der Jüdischen Gemeinde.

Spezialisierung Synagogenabbruch

Im Mai 1939 bewarb sich Mätschke dann auch auf den Abriss der im März niedergebrannten Synagoge in Teplitz-Schönau. Den Zuschlag erhielt die Firma jedoch nicht, auch wenn Mätschke ausdrücklich auf seine Erfahrungen beim Abriss der Dresdner Synagoge hinwies.

Der Abriss der Pogromruinen (1): Die Anordnung des sächsischen Innenministeriums

Durch Verfügung des sächsischen Innenministeriums wurde am 11. November 1938 der Abriss der Ruinen von Synagogen und Gebäuden der jüdischen Gemeinden in Sachsen angeordnet.

Anweisung des Innenministeriums

Regierungsdirektor Martin Hammitzsch forderte die Oberbürgermeister von Dresden, Leipzig, Chemnitz, Zwickau, Plauen und Zittau sowie den Ersten Bürgermeister von Annaberg telefonisch auf, die in Brand geratenen Synagogen als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und da sie unmittelbar ihre Umgebung verschandeln würden, zu beseitigen. Die Eigentümer, also die jüdischen Gemeinden, seien zu veranlassen, spätestens am 12. November mit dem Abriss zu beginnen und diesen bis zum 15. November 1938 abzuschließen. Sollten die jüdischen Gemeinden nicht fristgemäß mit dem Abbruch beginnen, so die Anweisung, sollten die Baupolizeibehörden auf deren Kosten alles Notwendige veranlassen.

Abbrucharbeiten bereits begonnen

Tatsächlich hatten in den meisten Städten die Abbrucharbeiten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen – auch aus Gründen der Bausicherheit, wie in Leipzig. Da viele Entscheidungsträger in Haft oder im Konzentrationslager einsaßen, setzten die städtischen Behörden, wie im Falle Dresdens, Zwangsverwalter ein, die alle nötigen Schritte veranlassten.

Beteiligung von Technischer Nothilfe oder anderen Organisationen

Das von Hammitzsch gezeichnete Schreiben vom 11. November befugte die städtischen Behörden auch dazu, die Technische Nothilfe oder andere geeignete Organisationen in den Abbruch einzubinden. Offensichtlich war also Eile geboten, um die sichtbaren Zeugnisse der Pogromgewalt schnellstmöglich zu beseitigen.

Der Erfolg der Abbrucharbeiten sollten dem Innenministerium dann bis zum 17. November 1938 gemeldet werden.

9. November 1938 – 13. /14. Februar 1945 (5): Gottes Strafe

Zu den Menschen, die Bezüge zwischen der Pogromgewalt und den Luftangriffe des 13./14. Februar 1945 auf Dresden schriftlich festhielten, gehörte auch Karl Josef Friedrich (1888-1965). Friedrich, der in Seifersdorf und Schönborn bei Radeberg als evangelischer Pfarrer arbeitete, notierte:

„Und nach fast 100 Jahren, am grausigen 9. November 1938, war die Synagoge mit allen anderen Synagogen Deutschlands nachts angezündet worden, und die Feuerwehr stand dabei und sah zu. Damals sagten fromme Leute: Das kann dem Hitler nicht gut ausgehen, wenn der schon anfängt Gotteshäuser anzuzünden, dann kriegt er’s mit Gott dem Herrn zu tun, und die Juden sind und bleiben einmal ein altes adliges Volk und sind das Volk unseres Heilands. Und diese Frommen behielten recht.“ (Friedrich, Karl Josef: Die Dresdner Fastnacht. Ein Erlebnisbericht vom 13. Februar 1945, Radebeul 2004, S. 90).

Mit der Deutung der Luftangriffe als göttliche Strafe für den Brand der Synagoge, eines Gotteshauses, war Friedrich nicht allein.

 

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (13): Von ‚Gynszpan‘ zu ‚Grünspan‘

Einen Beleg für die Steuerung der Tagespresse auch in Sachsen zeigt sich in der Schreibweise des Namens des Pariser Attentäters Herszel Grynszpan.

Von ‚Grynszpan‘ zu ‚Grünspan‘

Der ‚Dresdner Anzeiger‘ vom 7. November berichtete noch, dass sich der Attentäter „echt polnisch“ Herschel Seibel (Feibel) Grynszpan nenne. Allerdings, so das Blatt, könne er dadurch seine ‚Rassezugehörigkeit‘ nicht verleugnen. Am Folgetag schwenkte das Blatt auf die Schreibweise ‚Grünspan‘ um, die vermeintlich stärker den jüdischen Hintergrund des Attentats hervorhebt.

Diese Schreibweise setzte sich dann bis zum 10./11. November allgemein in den sächsischen und überhaupt den deutschen Zeitungen durch. Die Grundlage dafür bildete eine Presseanweisung vom 9. November. In dieser hieß es: „Der Moerder Gruenspan solle in deutschen Zeitungen nicht mit ‚y‘ geschrieben werden“ (Peter, Karen (Bearb.): NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, Bd. 6/III: 1938, München 1999, S. 1057).

Und so wurde in allen weiteren Artikel fortan nur noch vom ‚Juden Grünspan‘ gesprochen.