Category: Bruchstücke 1938|2018

Nichts mitbekommen? – Das Wissen um die Pogromgewalt

Im Grunde war es nur schwer möglich, nichts von den lokalen Pogromereignissen mitzubekommen, wenn man als gesunder Erwachsener den November 1938 erlebte: Neben der massiven antisemitischen Propaganda in Presse und Rundfunk fanden zuhauf antisemitische Lokalveranstaltungen statt und in der Bevölkerung sowie an den Schulen kursierten, das zeigen die Zeitzeugenberichte, zahlreiche Berichte wie Gerüchte zu den Gewaltexzessen und Verhaftungen.

Ahnungslose Kinder?

Gleichwohl: Mit Sicherheit wussten nicht alle Zeitgenossen von der Pogromgewalt: Gerade Kinder wurden oft von politischen und Gewaltthemen weitgehend abgeschirmt. So etwa der 1927 geborene Werner Wittig, der in dem heute zur Gemeinde Oberschöna gehörenden Dorf Bräunsdorf lebte. Zu seinem Wissen um Pogrom und Judenverfolgung hielt er fest: „Als elf-jähriger Pimpf habe ich von den Judenverfolgungen weder in der Schule noch im Elternhaus etwas erfahren“ (Wittig, Werner: Lebens-Spuren. Autobiographische Notizen eines Flakhelfers, viele Schutzengel und eine große Familie, Bd. 1, Borsdorf 2013, S. 118).
Doch selbst Wittig musste einräumen, dass ihm als Schüler Hitlers Judenhass bekannt gewesen sei.

Vergessen und Schweigen

An anderen Menschen wiederum gingen die Ereignisse vielleicht einfach vorüber und wurden zunächst wieder vergessen. Andere hüllten sich angesichts aktiver persönlicher Tatbeteiligung oder Nutznießerschaft nach 1945 bewusst in einen Mantel des Schweigens.

Raub und Zerstörung jüdischen Kulturguts (5): Chemnitz und Zwickau

Auch in anderen sächsischen Städten, in denen jüdische Gemeinden bestanden, wurden Archivunterlagen und Kulturgut im Zuge der Pogrome beschlagnahmt

Chemnitz

In Chemnitz legte die Gestapo Archivmaterial, Mitgliederlisten und Bücher unter Beschlag. Die Unterlagen wurden bis 1943 in der Trauerhalle des jüdischen Friedhofs gelagert. Das Kriegsende überstanden sie wohl ebenfalls nicht.

Zwickau

Auch in Zwickau wurde Archivmaterial der kleinen Jüdischen Gemeinde beschlagnahmt. Was mit den Unterlagen geschah, ist mir bislang nicht bekannt.

Raub und Zerstörung jüdischen Kulturguts (4): Ein Raub der Flammen

Gleichwohl wurden auch in Leipzig jüdische Kulturbestände vernichtet. So schrieb der Brandmeister Walter Hentschel über den Feuerwehreinsatz in der vollkommen niedergebrannten Ez Chaim-Synagoge:

„Beim Eintreffen der Feuerschutzpolizei brannten Teile des Betsaales in voller Ausdehnung. Um zu den Brandherden zu gelangen, mußten eine eiserne und mehrere hölzerne Türen aufgebrochen werden. Die Verqualmung und Hitzeeinwirkung im oberen Betsaal war zu Anfang schon derart stark, daß ein gefahrloses Betreten nicht mehr möglich war. Das Feuer ergriff vom großen Betsaal aus den unteren Geräteraum mit Inventar, fraß sich durch die Decke nach der Bücherei, wo infolge der starken Rauchentwicklung eine Rauchgasexplosion erfolgte, die den gesamten Raum in voller Ausdehnung in Brand setzte. Die ungeheureren Mengen von Büchern und losem Papier machten den nur noch möglichen Aussenangriff fast zu nichte, sodaß das Feuer den oberen Betsaal durch die Decke hindurch erfassen und grösstenteils vernichten konnte. Vom Altar und der Bücherei aus sprang das Feuer auf den Dachstuhl über, der völlig ausbrannte, einstürzte und auch das Gestühl des Betsaales mit Galerie unter sich begrub“ (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inv.-Nr. A/2017/2).

Rettung einer Thorarolle

Immerhin gelang es dem Rabbiner David Ochs wohl noch, zumindest eine Thorarolle aus dem brennenden Gebäude zu retten (vgl. Urban, Elke (Red.): Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen, Leipzig 2011, S. 88). Ochs selber wurde ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.

Raub und Zerstörung jüdischen Kulturguts (3): Beschlagnahmen in Leipzig

In Leipzig agierten bereits in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 SD-Angehörige, um auch mit Hilfe von Lastkraftwagen der Stadtreinigung Archivgut der Israelitischen Religionsgemeinde und von jüdischen Vereinen zu beschlagnahmen.

SD-Mann Kleber

SS-Männer transportierten aus dem Jüdischen Jugendhaus Möbel und Kleidungsstücke ab. Schriftgut des Jüdischen Pfadfinderbundes und weiterer Vereine wurden für den SD beschlagnahmt, darunter wohl auch das Archiv des zionistischen Turn- und Sportvereins Bar Kochba.

In der Messestadt – und dies zeigt, dass in dieser Nacht wie am kommenden Tag zumindest in den meisten sächsischen Großstädten Akteure auf unterschiedlicher Befehlsgrundlage mit- und nebeneinander agierten – waren es der SD-Judenreferent Werner Kleber sowie der SS-Scharführer und Judenreferent des SD-Unterabschnitts Leipzig Walter Hirche, die im Zusammenspiel mit der Gestapo die Sicherstellungen vornahmen.

Darüber schrieb der Historiker Carsten Schreiber: „Inmitten des von der Parteiführung gewollten Chaos der ‚Reichskristallnacht‘‘ mit ihren zahlreichen Bränden und wilden Zerstörungen brachten Kleber und Hirche mit ihren Mitarbeitern unwiederbringliche Synagogenarchive und jüdisches Kulturgut vor dem Feuer und der Wut der randalierenden SA in Sicherheit – in die Sicherheit ihrer eigenen Geheimarchive“ (Schreiber, Carsten: Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 238).

Sie beschlagnahmten nicht nur Unterlagen des ‚Central-Vereins‘, sondern auch 50 Leitz-Ordner der Zionistischen Organisation aus dem von der Zerstörung bedrohten Gebäude der Synagoge in der Keilstraße 4.

Raub und Zerstörung jüdischen Kulturguts (2): Die Unterlagen der Bautzener Jüdischen Gemeinde

Trotz der Aufforderung des Sipo-Chefs Reinhard Heydrich, Unterlagen der jüdischen Gemeinden vor der Zerstörung durch die Pogromtäter zu schützen, gelang dies nicht in allen Fällen.

Das Archiv der Bautzener Jüdischen Gemeinde

Als in der Stadt die Betstube der Jüdischen Gemeinde in der Töpferstraße 35 am 10. November 1938 demoliert wurde, warfen die Täter Einrichtungsgegenstände und Kultobjekte auf die Straße, wo sie verbrannt wurden.

Betroffen war davon wohl auch das Archiv der erst wenige Jahrzehnte alten Jüdischen Gemeinde. Hinweise auf einen anderweitigen Verbleib gibt es bislang jedenfalls nicht.

Raub und Zerstörung jüdischen Kulturguts (1): Das Dresdner Gemeindearchiv und Kultgegenstände

Neben den Demolierungen und Zerstörungen von Synagogen und Einrichtungen der jüdischen Gemeinden ging mit den Pogromen auch der systematische Raub jüdischen Kulturguts einher.

Anweisungen Heydrichs

Bereits in der Nacht zum 10. November 1938 wies Sipo-Chef Reinhard Heydrich in seinem ‚Blitz-Fernschreiben‘ auch an, Archivmaterial der jüdischen Gemeinden zu beschlagnahmen und zur ‚Gegnerbekämpfung‘ an den SD abzugeben.

Im Fernschreiben hieß es unter Punkt 3 wörtlich:

„Sofort nach Eingang dieses Fernschreibens ist in allen Synagogen und Geschäftsräumen der jüdischen Kultusgemeinden das vorhandene Archivmaterial polizeilich zu beschlagnahmen, damit es nicht im Zuge der Demonstrationen zerstört wird. Es kommt dabei auf das historisch wertvollere Material an, nicht auf neuere Steuerlisten usw. Das Archivmaterial ist an die zuständigen SD-Dienststellen abzugeben.“

Die Beschlagnahme des Dresdner Gemeindearchivs

In Dresden wurde das Archiv der Jüdischen Gemeinde am 10. November 1938 mit einem LKW abtransportiert. Leo Jehuda Schornstein erinnerte sich: „Es war nun gegen Mittag. Um 1.00 Uhr kam ein Polizeilastauto, und die SS- und die Gestapo-Männer luden die Gemeindeakten und Karteien sowie die Kultgegenstände auf und fuhren weg.“

Zuvor musste Schornstein mit anderen Gemeindeangestellten Kultgegenstände aus einem unzerstörten Teil der niedergebrannten Synagoge herausholen und ins Gemeindeamt transportieren. Dabei wurden sie vor der versammelten Menge gedemütigt.

Verbleib unbekannt

Was mit den Unterlagen der Dresdner Jüdischen Gemeinde geschah, ist bislang nicht endgültig zu klären. Entweder wurden die Unterlagen, sofern sie in der Dresdner Gestapo-Zentrale aufbewahrt worden, bei den Luftangriffen im Februar 1945 mit zerstört. Oder sie wurden, sofern sie gegebenenfalls doch nach Berlin weitergegeben und gegen Kriegsende ausgelagert wurden, entweder zerstört oder sind zumindest bis heute verschollen.

Ein Objekt und seine Geschichte (3): Steine der Synagoge als Gartentreppe

Die Firmen, die den Abriss und Abtransport des Bauschutts der zerstörten Synagogen in Chemnitz, Dresden und Leipzig übernahmen, bemühten sich um eine Weiterverwertung noch verwendbarer Baumaterialien.

Verkauf von Steinen der Dresdner Synagoge

Das Dresdner Abbruchunternehmen Mätschke verkaufte so unter anderem Sandsteinblöcke von der Dresdner Synagogenruine, die dann bei anderen Bauvorhaben zur Verwendung kamen.

Einige dieser Steine fanden Eingang in die Treppe eines Privatgrundstücks in einem kleinen Ort bei Dresden. Verkauft wurden sie von Mätschke Ende Dezember 1938 für knapp 40 Reichsmark.

Die späteren Besitzer erfuhren erst 1971 von der Herkunft der Steine und machten die Geschichte 2001 publik, als in Dresden die Neue Synagoge geweiht wurde.

Objekte der Erinnerung

Einige der aufgefundenen Steine befinden sich heute im Vorhof der Neuen Synagoge. Sie sind in den dort aufgebrachten Grundriss der alten Sempersynagoge eingelassen.

Pogrom im Roman (2): Der Reisende

Zu den frühesten literarischen Werken, die die Pogromereignisse in Deutschland verarbeiten, zählt Ulrich Alexander Boschwitzs Roman ‚Der Reisende‘, der zuerst 1939 in England (‚The man who took the trains‘, unter Pseudonym John Grane), 1940 in den USA (‚The Fugitive‘) und erst 2018 in deutscher Sprache erschien. Eine französische Übersetzung erschien 1945 in Frankreich (‚Le fugitif‘, unter Pseudonym John Grane).

Inhalt: Eine Fluchtodyssee

Der Roman schildert mit vielen Details das Leben des Berliner Kaufmanns Otto Silbermann in den Tagen ab dem 10. November 1938. Nach der Zerstörung seiner Wohnung flieht Silbermann mit dem Zug durch das Deutsche Reich. Er trifft andere Verfolgte, glühende Verehrer des Nationalsozialismus, Menschen die sich seines Schicksals annehmen, scheitert mit einem versuchten illegalen Grenzübertritt nach Belgien, wird von seinem ‚arischen‘ Geschäftspartner hintergangen und verliert schließlich auch noch 36.000 Reichsmark, die ihm während seiner letzten Zugfahrt gestohlen werden.

Die unzähligen Bahnfahrten bringen den ‚Reisenden‘ schließlich zu dem Schluss: „Ich bin in die Deutsche Reichsbahn integriert“ (S. 174). Der Roman endet mit der Verhaftung Silbermanns. Andeutungen im Verlauf des Buches lassen erahnen, dass dem Festgenommenen nunmehr die Verschleppung ins Konzentrationslager und körperliche Gewalt drohen.

Die Themen und Szenen des Romans spiegeln auch eine Auseinandersetzung Boschwitzs mit seinen eigenen Lebenserfahrungen wider: Der 1915 geborene Autor floh 1935 zunächst nach Schweden und ging 1939 nach England. 1942 starb er, als ein von der britischen Regierung gechartertes Passagierschiff vor den Azoren von einem deutschen U-Boot versenkt wurde.

Eine Sammlung persönlicher Unterlagen Boschwitz‘ verwahrt das Leo Baeck Institute; das deutsche Typoskript seines Romans liegt in der Deutschen Exilbibliothek der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main.

Der sächsische Bezug: Dresden

Auch, wenn sich der Großteil der Romanhandlung auf andere Orte und insbesondere auch die Zugreisen Silbermanns bezieht, so nimmt das Buch auf Sachsen Bezug: Der Reisende gelangt bei seiner vorletzten Zugfahrt von Berlin nach Dresden, wo er einen Schwächeanfall erleidet und in ein Krankenhaus gebracht wird, aus dem er sich als ‚Jude‘ schnell wieder zu entfernen sucht. Er fährt auf den Weißen Hirsch und lässt den Blick über die Stadt schweifen, um sich schließlich zur Rückkehr in seine Wohnung nach Berlin zu entscheiden. Auf dieser Fahrt wird ihm sein mitgeführtes Geld gestohlen und die Verzweiflung des Verfolgten auf den Höhepunkt gesteigert.

Zum Lesen: Boschwitz, Ulrich Alexander: Der Reisende, Stuttgart 2018.

Für den Hinweis auf das Buch danke ich Benjamin Rosenkranz.

Ein Objekt und seine Geschichte (2): Ein Kleiderbügel aus Meißen

Zu den Objekten, die einen Bezug zur Geschichte der sächsischen Pogrome gestatten, zählen auch Werbeartikel jener Geschäfte, die am 9. und 10. November 1938 angegriffen wurden.

Ein Kleiderbügel aus Meißen

In Meißen war von der Gewalt unter anderem das Geschäft von Alexander Löwenthal betroffen. Die Gesamtschadenssumme belief sich auch fast 12.400 Reichsmark, für die Löwenthal selbst aufkommen musste (vgl. Christl, Andreas; Steinecke, Gerhard: Juden in Meißen. Nossen 2000, S. 25).

Bei einer Haushaltsauflösung im nahe gelegenen Radebeul fand sich vor einigen Monaten ein Kleiderbügel des Meissner Herren- und Knabengarderobegeschäfts, der die Aufschrift „A. Loewenthal, Meissen.“ trägt.

Es sind Objekte wie dieses, die einen Zugang zur Geschichte einer von den Pogromen betroffenen Familie erlauben. Löwenthal und seine Frau Else wurden 1942 von Berlin nach Riga transportiert und wurden dort vermutlich sofort ermordet. Das Schicksal der beiden Kinder Kurt und Käthe ist unbekannt.

 

 

Ein Objekt und seine Geschichte (1): Eine Schere aus Buchenwald

Mit den Pogromereignissen sind nicht nur Augenzeugenberichte und Fotografien verbunden, sondern auch einige Objekte. Zu diesen zählt eine Schere, die sich heute im Besitz von Anneliese Schellenberger in Leipzig befindet.

Dank eines als Juden Verfolgten

Die kleine Schere stammte aus dem Besitz ihres Vaters Alfred Schellenberger, der als Kommunist im Konzentrationslager Buchenwald einsaß. Nach der Erinnerung Anneliese Schellenbergers habe der Vater diese von einem als Juden Verfolgten nach den Pogromen erhalten, dem er im Lager geholfen habe und der sich dafür auf diese Weise bedanken wollte.

Der Name des Schenkers ist indes unbekannt, so dass der Geschichte nicht noch weiter auf den Grund gegangen werden konnte.