Monthly Archives: September 2018

Reaktionen der Zuschauer (1): Schweigen und Angst

Zu meinem letzten Vortrag zu den sächsischen Novemberpogromen in Frankenberg wurde auch die Frage gestellt, wie denn die Menschen angesichts der Gewalt reagiert hätten und ob man den etwas dazu sagen könne, ob es neben den organisierten Pogromtätern vielleicht doch irgendwo eine mobilisierbare Masse gegeben habe.

Nach den mir bislang bekannten Quellen ist eine Gesamtübersicht für Sachsen indes schwierig. Es finden sich aber zumindest für einzelne Orte Rückmeldungen oder Wahrnehmungen in Zeitzeugenberichten oder Autobiografien. Allein: Natürlich sind auch diese Quellen subjektiv und oft war nur schwer zu unterscheiden, wer organisierter Täter war und wer sich zum Mitmachen hinreißen ließ. Oft hatten gerade SA-Männer die dienstliche Anweisung erhalten, in Zivilkleidung aufzutreten.

Wahrnehmungen in Leipzig

In Leipzig war es Siegfried Theodor Arndt, die die Pogromgewalt und auch die Menschen darum herum erlebte. In seinen Jahrzehnte später niedergelegten Lebenserinnerungen nahm er die Zuschauer wie folgt wahr:

„Es ist erschreckend, daß ein solches Ereignis keine Nachwirkungen hatte. Damals gab es Leute, die sich über das freuten, was den Juden passierte, aber die Mehrheit schaute weg. Die furchtbare Entfremdung zwischen Juden und Christen wurde deutlich. Unter den Brandstiftern in Leipzig war ein protestantischer Theologe, wie ich erst viel später erfuhr. Die Konsequenz war eine nicht eingestandene Angst und – Schweigen. Ich dachte nach wie vor: Wenn das der Führer wußte! Noch heute mache ich die Erfahrung, daß meine Altersgenossen nicht über die Judenverfolgung sprechen, obwohl sie andeuten, das Novemberpogrom zur Kenntnis genommen zu haben“ (Löffler, Katrin: Keine billige Gnade. Siegfried Theodor Arndt und das christlich-jüdische Gespräch in der DDR, Hildesheim 2011, S. 228).

Die Polizei – Dienst nach Anweisung (3): Pirna und Freiberg

Nicht immer erreichten die Anweisungen der Polizeischefs Heydrich und Daluege, wie sich die Einsatzkräfte angesichts der Pogrome zu verhalten hätten, die lokalen Polizeieinheiten pünktlich. So konnte es sein, dass Polizisten vor Ort zunächst sogar gegen Unruhestifter einschritten.

Festnahmen in Pirna – Untersuchungen in Freiberg

In Pirna nahmen Beamte am Morgen des 10. November so zunächst zwei SA-Täter fest. Sie mussten die Inhaftierten aber bald wieder freilassen (Jensch, Hugo: Juden in Pirna, aktual. Aufl., Pirna [2009], S. 11).

In Freiberg stellte ein Polizeibeamter nach erfolgter Anzeige eines Bergarbeiters die Zerstörung der Scheiben des Bekleidungsgeschäfts ‚Zur Zentrale‘ und aller anderen ‚jüdischen‘ Geschäfte fest. Er ermittelte als Täter drei SA-Männer, die dann allerdings nichts zu befürchten hatten (Düsing, Michael: „Mein Weg, Herr Oberbürgermeister, ist schon bestimmt“. Judenverfolgung in Freiberg 1933-1945, Dresden 2011, S. 47).

Die Polizei – Dienst nach Anweisung (2): Mülsen St. Jacob

Die Amtshauptmannschaft Glauchau gab konkrete polizeiliche Anweisungen an die zuständigen Dienststellen telefonisch durch: Ein Beamter des Rathauses Mülsen St. Jacob protokollierte am 10. November gegen 10:15 Uhr eine eingegangene Mitteilung.

Nichts sehen

Deren Inhalt ließ er von drei weiteren Personen unterschreiben. Darin wurde mitgeteilt, dass es zu ‚spontanen Kundgebungen‘ gegen Juden kommen werde. Die Gendarmen sollten „[n]icht polizeilich einschreiten. Nur Plünderungen mit allen Mitteln verhindern. Synagogen nicht schützen. Einwerfen von Fensterscheiben nicht sehen“ (Peschke, Norbert: Naziterror in Zwickau. Über Widerstand und Verfolgung politischer Gegner während des NS-Regimes in der Zwickauer Region (1933-1939), Zwickau 2005, S. 99 f.).

Die Polizei – Dienst nach Anweisung (1): Bautzen

Während der Pogrome ergingen an die regionalen und lokalen Dienststellen der Ordnungspolizei konkrete Anweisungen, wie sich die Beamten zu verhalten hätten. Ihnen wurde faktisch ein Eingreifen bei Übergriffen auf jüdische Einrichtungen untersagt – lediglich bei Plünderungen sollten sie eingreifen.

Die Bautzener Polizei

Tatsächlich hielten sich die Polizeibeamten offensichtlich weitgehend an die gemachten Vorgaben. Sie griffen nur dort ein, wo die öffentliche Sicherheit bedroht war oder Plünderungen vorkamen. SA-, NSKK-, SS- und weitere Täter konnten daher weitestgehend ungestört ihr Zerstörungswerk verrichten, auch in den kleineren Orten.

Der Bautzener Polizeibeamte Rudolf Korb erinnerte sich nach Kriegsende, das man der Pogromgewalt tatenlos zugesehen und strenge Anweisung gehabt habe, sich um nichts zu kümmern, nirgends einzugreifen und lediglich den Verkehr zu regeln (vgl. Diamant, Adolf: Materialien zur Geschichte der Juden in der Deutschen Demokratischen Republik – ein wissenschaftliches Fragment, Frankfurt am Main 1984, S. 133).

Hilfe für die Verfolgten (5): Marie Luise Pleißner in Chemnitz

In Chemnitz setzte sich die 1891 geborene Marie Luise Pleißner für die als Juden verfolgten Menschen ein. Pleißner, die Deutsch, Religion und Turnen unterrichtete, war aufgrund ihrer antifaschistischen Einstellung 1934 in den Ruhestand versetzt worden. Sie gab später unter anderem Kindern von als Juden verfolgten Familien Unterricht.

Angesichts der Pogromgewalt

Die Pogromereignisse erschütterten Pleißner schwer: Zusammen mit Grete Sumpf fuhr sie ins Berliner Quäkerbüro, um eine öffentliche Stellungnahme der gegen die neue Stufe der Verfolgung zu erreichen. Sie fand jedoch kein Gehör und bemühte sich fortan selbst um die in Chemnitz Verfolgten: Im Februar und März 1939 reiste sie nach England, um bei der jüdischen Gemeinschaft und Verwandten von Chemnitzer Verfolgten für deren Aufnahme zu werben.

Durchs Pleißners Bemühungen sollen einer Frau und mehreren Kindern die Emigration geglückt sein. Im gleichen Jahr trat sie der Gesellschaft der Freunde (Quäker) bei.

Ins Konzentrationslager

Nach Kriegsbeginn 1939 wurde Marie Luise Pleißner wegen pazifistischer Äußerungen denunziert und für neun Monate ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Nach ihrer Freilassung wurde sie weiter überwacht.

Lehrerin und Politikerin

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete Pleißner wieder als Lehrerin und rückte als Mitglied der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) in den Sächsischen Landtag ein. Sie starb 1983.

Gedenkort in Chemnitz

In Chemnitz ist nach Pleißner nicht nur ein Park benannt. Am 3. September 2018 hat der Landesfrauenrat e. V. im Rahmen des Projekts ‚frauenorte sachsen‘ eine Gedenktafel in dem Park eröffnet.

Zur Biografie:

Feurich, Anneliese: „Auf eigene Verantwortung“. Marie Pleißner 1891-1983, in: Kirchliche Bruderschaft Sachsens (Hg.): Juden und Christen. Kinder eines Vaters, Dresden [1988], S. 46–50.
Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker) (Hg.): Lebensbilder deutscher Quäker während der NS-Herrschaft 1933-1945. Sammlung von Schicksalen aus der Erinnerung, aus Briefen, Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten, Bad Pyrmont 1992, S. 79-82.
Jacobeit, Sigrid; Thoms-Heinrich, Lieselotte: Kreuzweg Ravensbrück. Lebensbilder antifaschistischer Widerstandskämpferinnen, 2., bearb. Aufl., Leipzig 1987, S. 138-146.

Zwickau – Berichte von Augenzeugen (1): Heinz Raphael

In Zwickau erlebte der 1927 in Beckum geborene Heinz Raphael die Pogromgewalt. Erst im Mai 1938 war er mit seiner Familie in die westsächsische Stadt gezogen, wo sein Vater Jacob Raphael, als Prediger der Jüdischen Gemeinde angestellt war.

Mit Masern im Bett

Während der Zwickauer Pogromereignisse lag Heinz Raphael mit Masern im Bett. Die Gestapo habe am 10. November 1938 vor der Wohnungstür im Gemeindehaus (Elsasserstraße 65) gestanden – den kranken Jungen aber unbehelligt gelassen. Allerdings sei das Wohnzimmer demoliert worden: Bücher- und Wandregale seien umgestürzt, ein großes Goethe-Porträt mit der Axt zerstört worden. Der Schaden habe sich darüber hinaus aber in Grenzen gehalten.

Bericht des Vaters

Auch der Vater berichtete, dass es nur wenig Schaden gegeben hab. Er sei jedoch festgenommen worden und sei zusammen mit anderen Verfolgten auch an der zerstörten Betstube in der Burgstraße vorbeigeführt worden. Vom Polizeigefängnis seien sie dann ins Konzentrationslager Buchenwald transportiert worden.

Der Vater, so Heinz (später Zeev) Raphael, sei am 8. Dezember 1938 entlassen worden. Für eine kurze Zeit habe er danach jeden Morgen Tefillin angelegt.

Entlassung aus der Schule

Nachdem er die Masern überstanden hatten, wurde Raphael aus der Schule entlassen. Er musste fortan die Jüdische Schule in Chemnitz besuchen. Ende August 1939 emigrierte Raphael mit seiner Mutter nach Schweden.

Der Bericht Heinz Raphaels ist im U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington, D. C., hinterlegt.

Pogromgedenken in Sachsen (1): Siegfried Theodor Arndt

Im Jahr 1971 übernahm der Leipziger Pfarrer Siegfried Theodor Arndt (1915-1997) den Vorsitz der ‚Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum‘. Arndt wurde in den folgenden Jahren zu einer der prägendsten Persönlichkeiten des christlich-jüdischen Dialogs in der Messestadt. Mit Eugen Gollomb (1917-1988), dem Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, arbeitete er dabei eng zusammen. Ab Ende der 1970er-Jahre gingen daraus regelmäßige Vortrags- und Gedenkveranstaltungen anlässlich der Novemberpogrome hervor.

Arndt und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Arndt war mit seinem biografischen Werdegang und seiner Auseinandersetzung mit demselben in seiner Generation eine große Ausnahme: Er sprach offen über seine jugendliche Begeisterung für den Nationalsozialismus. Anlässlich des 15. Jahrestags des gescheiterten Hitler-Putsches hatte er bei einer der Gedenkveranstaltungen in Lindenthal gar eine der Reden gehalten. Er gab sich nach 1945 jedoch nicht damit zufrieden, lediglich verführter Mittläufer gewesen zu sein. Die Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Vergangenheit und Schuld beschäftigte ihn sein ganzes Leben.

Im Angesicht des Pogroms

Arndt sah in Leipzig die Synagogenruine in der Gottschedstraße, zerstörte Geschäfte und Gemeindeeinrichtungen. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er dazu, er sei „entsetzt und fassungslos“ gewesen. Seine Einsicht in die Menschenfeindlichkeit des Nationalsozialismus und die Ursachen des Antisemitismus wuchs jedoch erst nach Kriegsende.

Zu Arndts Biografie siehe: Löffler, Katrin: Keine billige Gnade. Siegfried Theodor Arndt und das christlich-jüdische Gespräch in der DDR, Hildesheim 2011.

Gedenkjahr 2018 (4): Die Serie ‚Krieg der Träume‘

Gegenwärtig läuft bei Arte die achtteilige Reihe ‚Krieg der Träume – 1918-1938‚, die anhand biografischer Beispiele die historischen Entwicklungen in Europa zwischen dem Kriegsende 1918 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 nachzeichnet.

Krieg

Der achte Teil der Serie thematisiert die Zeit ab dem ‚Anschluss‘ Österreichs im März 1938. Die nationalsozialistische Judenverfolgung ist neben den außenpolitischen Bestrebungen des Deutschen Reichs einer der Schwerpunkte der Folge.

Der Film nimmt auch die Pogrome nach der Annexion Österreichs mit ihren Übergriffen auf und Misshandlungen von als Juden Verfolgten auf. In einer kurzen Szene mit Bezug auf Berlin werden darin auch die Novemberpogrome im Deutschen Reich thematisiert.

Die Folge kann gegenwärtig abgerufen werden unter: https://www.arte.tv/de/videos/067244-008-A/krieg-der-traeume-1918-1939-8-8/ (13.09.2018)

Ein Foto und seine Geschichte (17): Buchenwald

Die meisten der im mitteldeutschen Raum als Juden während und nach der Pogromgewalt verhafteten Männer wurden in das Konzentrationslager Buchenwald Überstellt. Es gibt mehrere Fotografien, die die Pogromhäftlinge beim Appell im Lager zeigen. Die meisten befinden sich heute im U. S. Holocaust Memorial Museum in Washington.

Gedenkstätte Buchenwald

Die Gedenkstätte Buchenwald stellt Interessierten eine Datenbank zur Verfügung, die die Recherche dieser Fotografien und weiterer Aufnahmen ermöglicht. Darunter finden sich auch Abbildungen von der Errichtung des Konzentrationslagers im Jahr 1937 und den Steinbruchs, in dem auch die als Juden Verfolgten Schwerstarbeit verrichten mussten.

Die Berichte der Verfolgten, die in Buchenwald ankamen, zeugen von der offenen Gewalt und den Misshandlungen.

Pogrom und Gegenwart (1)

In den letzten Monaten sind im Kontext fremdenfeindlicher Übergriffe immer wieder Begriffe wie ‚Pogrom‘ oder ‚Pogromstimmung‘ verwendet worden.

Der Leipziger Polizeipräsident 2016

Anfang Februar 2016 sprach der Leipziger Polizeipräsident und Leiter des damaligen Operativen Abwehrzentrums, Bernd Merbitz, angesichts zahlreicher fremdenfeindlicher Übergriffe in einem Interview davon, dass in ganz Sachsen „eine Pogromstimmung [herrscht], die eine kreuzgefährliche Intensität bekommt“ (Roth, Matthias; Lieb, Thomas: Anschläge auf Asylunterkünfte – Merbitz: „ Es herrscht Pogromstimmung“, in: Leipziger Volkszeitung (02.02.2016), online unter: http://www.lvz.de/Leipzig/Polizeiticker/Polizeiticker-Leipzig/Anschlaege-auf-Asylunterkuenfte-Merbitz-Es-herrscht-Pogromstimmung (Stand: 25.05.2018) ). Ob bewusst oder unbewusst stellte er mit seiner Begriffswahl die menschenfeindlichen Tendenzen der Gegenwart auch in Bezug zu den antisemitischen Novemberpogromen von 1938.

Auch im Kontext der aktuellen Debatte um die Ereignisse in Chemnitz wird immer wieder der Begriff ‚Pogromstimmung‘ verwendet – und über diese Wortverwendung auch gestritten.

Die Pogrome von 1938 und wir heute

Inzwischen sind 80 Jahre seit den Pogromen vergangen. Nur noch eine kleine Zahl an Zeitzeugen kann überhaupt von den Ereignissen berichten. Zudem setzt die Geschichte des Nationalsozialismus bei der dritten oder vierten Folgegeneration kaum noch direkte menschliche und emotionale Bezüge. Das heißt nicht, dass die Jahre zwischen 1933 und 1945 nicht mehr präsent sind, im Gegenteil. Die Frage aber, welche Bezüge diese Zeit für die Menschen damals wie heute hatte und hat, wird zu selten konkret gestellt oder verhallt.

Das gilt auch für die Novemberpogrome: Statt die Verwendung oder Nichtverwendung des Wortes Pogrom für die heutigen Ereignisse zu debattieren, sollte man sich vor Augen führen, dass damals, 1938, als Juden Verfolgte, die Pogromtäter und Mittäter, die Zuschauer, die Helfer der Verfolgten allesamt Menschen waren, deren jeweils unterschiedliche Vorstellungen, Werte und Vorurteile in der Gewalt der Pogrome wie im menschlichen Handeln zutage traten.

Es ist vermutlich gerade dieses Menschsein, das wir uns auch in der heutigen Zeit immer wieder vor Augen führen sollten, wo es um Grundwerte und -ideen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens geht. Die Pogrome von 1938, vor allem aber die Geschichten all der daran beteiligten Menschen, können dafür Bezugspunkte für die Reflektion bieten.