Tag Archives: Judenverfolgung

Pogrom und Flüsterwitz (2)

Einen weiteren Flüsterwitz hielt Ralf Bachmann in seinen Erinnerungen fest, der die Pogromtage in Crimmitschau und Leipzig erlebt hatte.

Ess, ess

So habe man überall in Leipzig den Witz erzählt, „ein Vater habe mit seinem Sohn im Café am Augustusplatz bei Kuchen und Sahne gesessen und sei erschrocken, als der laut fragte: ‚Papa, wer hat denn Bamberger & Hertz angebrannt?‘ ‚Ess, mein Junge‘, bat er statt zu antworteten. Der Knabe wiederholte seine Frage, und der Vater sagte nachdrücklicher.‘Ess, ess, mein Junge!‘ Nun gab sich der Sohn zufrieden: ‚Dacht ich mir doch gleich.‘“ (zit. in Schattenblick). Gemeint war hier also eine Täterschaft der Schutzstaffel, kurz SS, deren Angehörige nachweislich während des Leipziger Pogroms im Einsatz waren.

Pogrom und Flüsterwitz (1)

Auch zu den Novemberpogromen kursierten in Sachsen hinter vorgehaltener Hand erzählte Flüsterwitze. Sie benannten klar die organisierte Täterschaft von Mitgliedern der NSDAP und ihren Gliederungen.

Bamberger & Hertz in Leipzig: Volksspott statt Volkszorn

Einer der Flüsterwitze, die in Sachsen erzählt wurden, bezog sich auf den Brand des Kaufhauses Bamberger & Hertz am Augustusplatz in Leipzig. Der Fall würde über Sachsen hinaus bekannt, weil den als Juden verfolgten Besitzern des Kaufhauses entgegen der nationalsozialistischen Täterschaft selbst die Brandstiftung unterstellt wurde.

Der Witz ging wie folgt: „Warum löschen die nicht bei Bamberger & Hertz?“ – „Da könnte ja das Feuer ausgehen.“

Zum Schicksal des Konfektionshauses Bamberger & Hertz: Lorz, Andrea: Existenzvernichtung und „Arisierung“ im Einzelhandel und im Gesundheitswesen, in: Gibas, Monika (Hg.): „Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945, Leipzig 2007, S. 52–71, hier: S. 59–61.

Ralf Bachmann (2): Nach Leipzig

Ralf Bachmann, dessen Familie selbst am 9./10. November 1938 als Juden verfolgte Menschen aufnahm, gehörte selbst zu den Verfolgten. Der 1929 geborene Bachmann war zwar evangelisch getauft, doch schütze ihn dies nicht vor Verfolgung. 1995 schrieb er seine Erinnerungen nieder und berührte darin auch die Pogromereignisse (Bachmann, Ralf: Ich bin der Herr. Und wer bist Du?, Berlin 1995).

Zum Onkel nach Leipzig

Am Folgetag, also wohl am 10. November 1938, fuhr Bachmann mit seiner Mutter nach Leipzig, um nach seinem Onkel Willy zu sehen. Über seine Erlebnisse schrieb er später:

„Wie viel an jenem Tag in Flammen aufgegangen war, sah ich am nächsten Tag, als meine Eltern in Sorge um das Schicksal des Bruders meiner Mutter und seiner Familie mit mir nach Leipzig fuhren. Am Augustusplatz war das Eckhaus zur Grimmaischen Straße völlig ausgebrannt, in dem sich das große jüdische Konfektionshaus Bamberger & Hertz befunden hatte. Was hier geschehen war, durfte man nicht einmal aussprechen. Die vom offiziellen Naziorgan ‚Leipziger Tages-Zeitung‘ verbreitete Version lautete nämlich, ‚die Juden‘ hätten dort ‚in raffinierter Weise eigenhändig Feuer angelegt‘. Kein normaler Mensch glaubte das. […] In triumphierendem Ton bilanzierte die ‚Leipziger Tages-Zeitung‘ – wie viele deutsche Journalistengenerationen mögen deren nie zur Rechenschaft gezogene Redakteure wohl noch zu wahren Demokraten erzogen haben? – am Tage danach: ‚Die Synagoge an der Gottschedstraße und das Bethaus in Apels Garten waren nicht die einzigen Tempel, die die Volkswut vernichtete. Überall, wo sich die Itzigs mit ihren Thora-Büchern eingenistet hatten, loderten die Flammen. Auch die Kapelle auf dem Israelitischen Friedhof fing Feuer.’“ (zit. in Schattenblick).

Onkel Willy in Buchenwald

Der Onkel gehörte zu den Personen, die festgenommen und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden waren. Auch daran erinnerte sich Bachmann: „Auch mein Onkel Willy war schon am Folgetag unmittelbar davon betroffen. Er musste sich im Polizeipräsidium melden und wurde von dort direkt in das KZ Buchenwald abtransportiert. Nach fünfeinhalb Monaten hat man ihn nur gegen die Verpflichtung entlassen, sofort aus Deutschland zu verschwinden“ (ebd.).

Die nachfolgende Emigration auf dem Dampfer ‚St. Louis‘ endete nach langer Irrfahrt für den Onkel in Frankreich; 1942 starb er in den Gaskammern von Auschwitz.

Ralf Bachmann (1): Ein offenes Haus in Crimmitschau

Viele der als Juden Verfolgten Menschen versuchten angesichts von Gewalt und drohender Festnahme unterzutauchen oder sich bei Freunden und Bekannten in Sicherheit zu bringen.

Erinnerungen an den 9./10. November 1938 in Crimmitschau

Zu den Zeitzeugen jener Pogromtage gehörte der achtjährige Ralf Bachmann in Crimmitschau. 2008 erinnerte er sich der Ereignisse:

„Ich war damals noch keine neun Jahre alt und wohnte mit meinen Eltern in der sächsischen Textilarbeiterstadt Crimmitschau. Dort gab es nicht sehr viele Juden, aber da meine Eltern viele Leidensgefährten aus der weiteren Umgebung gut kannten, klingelte und klopfte es die ganze Nacht zwischen dem 9. und dem 10. an unserer Tür. Die meisten Besucher erhofften ein kurzes Asyl und ein wenig Ruhe, da mein Vater Nichtjude und zu erwarten war, dass ‚Mischehen‘ an diesem Tag noch nicht auf der „spontanen“ Menschenjagdagenda der Nazis standen.

[…]

Sie kamen, um uns nicht in Schwierigkeiten zu bringen, so unauffällig, wie man das mit blutenden Wunden und frischen Verbänden eben kann. Ich hockte still unter dem großen Stubentisch, denn niemand dachte daran, mich ins Bett zu schicken, und hörte alles mit. Jeder erzählte sein Erlebnis mit der SA und anderen ‚deutschen Volksgenossen‘. Fast alle weinten, nicht nur der Schmerzen oder des Schocks wegen, sondern auch aus tiefer Enttäuschung darüber, dass sich Nachbarn, Freunde, Skat- und Stammtischbrüder an den Misshandlungen und Plünderungen beteiligt hatten. Zum erstenmal war allen bewusst geworden, dass sie es hier nicht mit einer Horde verrückter Nazis zu tun hatten, sondern mit der Mehrheit des Volkes, welches bis gestern auch das ihre gewesen war“ (zit. in Schattenblick).

Die Familie Bachmann war eins von zahlreichen Beispielen, in denen Mitmenschen den Verfolgten ihre Türen öffneten und halfen. Für Crimmitschau selber sind bislang keine Pogromereignisse bekannt.

Bücher der Hamburger jüdischen Gemeinden in Sachsen: Provenienz Raubgut

Mit den Pogromereignissen von 1938 gingen nicht nur in Sachsen Beschlagnahmungen von Archiv- und Bibliotheksbeständen der jüdischen Gemeinden einher. Vielmehr kam es im gesamten Deutschen Reich auf Anweisung von Reinhard Heydrich zur Beschlagnahme entsprechenden Materials, das unter anderem zum Aufbau einer ‚Gegnerbibliothek‘ genutzt werden sollte.

Hamburger Bücher in Sachsen

Nach den Novemberpogromen wurden auch Bücher der Bibliothek des Jüdischen Religionsverbands Hamburg beschlagnahmt. Im Sommer 1943 wurden diese Bestände zum Schutz vor Kriegseinwirkungen nach Sachsen in die Schlösser Weißig und Hermsdorf ausgelagert. Bücher, die andernorts nach den Pogromen geraubt wurden, und ihre Geschichten gelangten somit auch auf das Gebiet des heutigen Freistaats Sachsen. Sie bilden einen weiteren, bislang kaum beachteten Aspekt der Pogromgeschichte ab.

Provenienzrecherche und Restitution

Im Rahmen eines Provenienzprojekts zur Überprüfung der nach 1945 erworbenen Bestände der SLUB Dresden wurden im September 2018 drei Bände der ehemaligen Hamburger Gemeindebibliothek identifiziert. Die Werke wurden an die Jüdische Gemeinde Hamburg zurückgegeben.

Ausführlicher: https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2018/09/25/restitution-slub-uebergibt-drei-buecher-aus-dem-eigentum-der-juedischen-gemeinde-hamburg/

9. November 1938 – Luftkrieg 1943/45 (5): Ein Leserbrief zu Leipzig

Günther Schmidt erlebte in Leipzig nicht nur die Novemberpogrome von 1938. Er zog in seinem Leserbrief in der ‚Leipziger Volkszeitung‘ von 1998 auch die Verbindung zu den Luftkriegszerstörungen in Leipzig.

Pogrom und Luftkrieg in Leipzig

Der schweigende Zug von Menschen, die in Leipzig 1938 die Pogromzerstörungen gesehen hätten, habe sich in der Messestadt noch zwei Mal wiederholt:

„[N]ach den ersten Bombenwürfen, vor allem auf Stötteritz, im Herbst 1943 und im Dezember des gleichen Jahres an den Tagen, als die beim Luftangriff vom 4. Dezember verwüsteten und danach zunächst gesperrten Straßen wieder für den Verkehr geöffnet wurden.

Heute zeigt sich klar, was man damals mehr nur ahnte oder auch verdrängte, wie eng diese Ereignisse miteinander verknüpft waren und wie die Schuld letztlich jeweils beim gleichen Personenkreis lag: bei den Nazis und jenen, die ihnen – oft wider besseres Wissen – Rückhalt boten“ (LVZ, 26.11.1998, S. 26).

Reaktionen der Zuschauer (2): Günther Schmidt in Leipzig erinnert sich

Am 26. November 1998 erschien in der ‚Leipziger Volkszeitung‘ ein Leserbrief von Professor Dr. Günther Schmidt* aus Leipzig. Schmidt wendete sich darin ausdrücklich der Frage zu, was er am 10. November 1938 in der Messestadt erlebt hatte und wie er die Zuschauer wahrnahm:

„Damals noch ein Kind, erinnere ich mich doch, daß am Nachmittag dieses Tages ein ununterbrochener Menschenstrom die Stätten der Verwüstung in Augenschein nahm: den Brühl, der von Glasscherben übersät war, den Augustusplatz, wo die Geschäftsräume der Bekleidungsfirma Bamberger & Hertz ausgebrannt und am Café Felsche die Fensterscheiben von der Hitze geborsten waren, und wohl auch die Stätte der Synagoge (die ich selbst nicht gesehen habe). Es wäre nicht das richtige Wort, würde man die Menschen, die sich dort einfanden, zu „Schaulustigen“ erklären. Die gedrückte Stimmung – es wurde kaum ein Wort gesprochen – deutete auf verbreitete Mißbilligung dessen, was geschehen war. Es war eben die SA, die dort gewütet hatte, nicht das „Volk“, wie die Machthaber es sich gewünscht hätten“ (S. 26).

* Vermutlich der Philologe Ernst Günther Schmidt (1929-1999), genaue Nachrecherchen stehen hier noch aus.

Pogromgedenken in Sachsen (2): Ein Artikel in Die Union von 1969

Ab etwa den 1960er-Jahren finden sich auch in den in Sachsen erscheinenden Tageszeitungen zunächst meist kleinere Beiträge, die um den Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 an das Ereignis erinnerten und eine Einordnung vornahmen.

Heinrich Finks Betrachtung zum Sonntag

Im November 1969 erschien im Blatt der ostdeutschen CDU (damals CDUD) Heinrich Finks* Betrachtungen zum Sonntag unter dem Titel „Schrille Nacht, unheilige Nacht“ (Die Union 24, 263 (08.11.1969)). Fink nahm sowohl auf den verharmlosenden Begriff der ‚Kristallnacht‘ Bezug, ging dann aber vor allem auf die Rolle der Christen angesichts der Pogrome ein – mit Verweis auf einen von ihm 1968 publizierten Buchband (Fink, Heinrich (Hg.): Stärker als die Angst. Den sechs Millionen, die keinen Retter fanden, Berlin: Union-Verlag).

In vielen Fällen, so Fink, habe der Christ die Wahrheit des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, für das gerade der Jude der Testfall sei, nicht gelebt. Vielmehr habe er diese Wahrheit „erst von Sozialisten und Kommunisten lernen“ müssen. Der Bezug zum antifaschistischen Gründungsverständnis der DDR ist hier offensichtlich.

Die Stellung der Augenzeugen

Den Augenzeugen, so Fink weiter, komme in der Erinnerungspolitik eine wichtige Rolle zu, um der jungen Generation ein Verständnis zu den Ereignissen der Judenvernichtung zu vermitteln. Allerdings: „Viele dieser Augenzeugen reden aber heute von ihrer Tatenlosigkeit in biedermännischer Selbstrechtfertigung: ‚Man konnte ja doch nichts tun, jeder Versuch wäre sinnlos gewesen …‘ Vielleicht hat, wer heute noch so redet, nur nicht den Mut zuzugeben, daß er Möglichkeiten zur Hilfe gar nicht erst geprüft hat, weil auch er im ‚großdeutschen‘ Machtrausch unter Narkose stand.“ Damit räumt der Verfasser den untätigen Zuschauern immerhin ein, dass sie einer kollektiven Verführung erlegen seien und deshalb nicht antifaschistisch hätten handeln können.

Judenhass in Geschichte und Gegenwart

Auch der Judenhass sei nicht nur Teil der Menschheitsgeschichte sondern auch der christlichen Predigttradition. Auch aus dem „Arsenal kirchlicher Lehre und Terminologie“ hätten sich die „Nazi-Ideologen ihre antisemitischen Waffen“ holen können, auch bei Luther.

Finks Beitrag endet mit dem Aufruf zur Buße: „Der Kampf gegen den Neufaschismus aller Variationen gilt ebenso dem Antisemitismus, besonders da, wo er sich christlich tarnt. […] Nicht an Argumenten von Atheisten, sondern ausschließlich an der Unbußfertigkeit von Christen kann die Kirche zu Grunde gehen.

* Der Artikel ist mit „Dr. Heinrich Fink“ gezeichnet – vermutlich handelt es sich hier um den 1935 geborenen Berliner Theologieprofessor Heinrich Fink.

Augenzeugen: Rolf Isaacsohn in Leipzig

Zu der kleinen Zahl an Menschen, die im November 1938 selbst als Juden verfolgt worden und heute noch von den Pogromen berichten können, gehörte in Leipzig der heute 85-jährige Ehrenvorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Rolf Isaacsohn.

Interview mit Hitlergruß

Isaacsohn, der erst vor einigen Tagen mit dem sächsischen Verdienstorden ausgezeichnet wurde, war im Herbst 2017 in den Schlagzeilen, als bei einem Fernsehinterview an der Gedenkanlage ‚Leere Stühle‘ zwei Männer den Hitler-Gruß gezeigt hatten.

Der Pogrom von 1938

Isaacsohn sah am 10. November 1938 die brennende Synagoge in der Gottschedstraße und die Misshandlungen von Verfolgten im Flussbett der Parthe. Beides erschütterte ihn tief. Bis heute erzählt er Menschen von diesen Erlebnissen.

Bei der Eröffnung der Ausstellung BRUCH|STÜCKE – Die Novemberpogrome in Sachsen 1938 in Leipzig am 7. Oktober 2018 wird Isaacsohn sprechen – ein herzliche Einladung an alle Interessierten!

Mehr zur Ausstellung unter: http://bruchstuecke1938.de/ausstellung/

Vor dem Pogrom (1): Hugo Hahn und die Juden in Dresden

Einer der engagiertesten Kämpfer der sächsischen Bekennenden Kirche war der Dresdner Superintendent und Pfarrer der Frauenkirche, Hugo Hahn (1886-1957).

Die ‚Judenfrage‘ als Last

In seinen Erinnerungen (Hahn, Hugo: Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933-1945, Metzingen 1969) ging er auch auf die Verfolgung der Juden ein.

So schrieb Hahn: „Schwerer […] wirkte auf mich und die bekenntnistreuen Brüder im ganzen Reich die Judenfrage. Der fanatische Judenhaß der Partei und die daraus erwachsenden Verfolgungen stellte uns in Gewissensentscheidungen. Ich war bisher alles andere als judenfreundlich gewesen. Wir hatten bei unseren Einkäufen jüdische Geschäfte gemieden. Aber ich empfand die Formen des Judenboykotts [von 1933] als unchristlich und verwerflich. Nun ging ich aus Mitleid und Protest gerade in jüdische Geschäfte. Es war rührend, wie sie sich dort freuten und nett zu uns waren. Noch tiefer bewegte uns ein anderes kleines Erlebnis. Unsere Kinderschwester Hanna [Langer] hatte einer jüdischen Familie, die in der Nähe unseres Kindergartens wohnte, erlaubt, daß deren kleine Kinder in einer Ecke des Gartens still für sich spielen durften. Sie erzählte uns, wie namlos glücklich Mutter und Kinder darüber wären. Wie schnitt uns das ins Herz, obwohl es sich ja nur um erste Anfänge des Grauens der späteren Judenverfolgungen handelte!

Dann begann die Geschichte mit dem Arierparagraphen, die Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben. Daß sich die Juden viel zu weit in alle möglichen Berufe und Stellungen vorgedrängt hatten und wirkliche Schäden vorlagen, gaben wir zu. Aber die allem Recht hohnsprechende Art wie das nun bekämpft wurde und wie dadurch namenloses Elend über viele Menschen kam, empörte uns aufs tiefste. Ich fühlte mich und unsre ganze Kirche mitschuldig an diesem großen Unrecht. Ich habe den jüdischen Rabbiner in Dresden aufgesucht, um ihm meine und vieler Christen Teilnahme zu bezeugen. Er war dankbar für den Besuch. Leider mußte ich ihm bekennen, daß wir praktisch nur wenig tun könnten, weil wir selbst schon im Kampf in der Defensive stünden und ganz ohne Einfluß auf die führenden Kreise wären. Aber ich empfand schon damals und empfinde auch heute die große Schuld unseres Schweigens zum Unrecht gegen die Juden.

Schlimm war für uns das Übergreifen der Judenbekämpfung auf das Gebiet der Kirche. Ich denke an die Angriffe gegen das Alte Testament und die alttestamentlichen Ausdrücke in der Liturgie und im Gesangbuch wie: Amen, Halleluja, Herr Zebaoth, Zion, Abrahams Samen usw. Zu einer brennenden Frage wurde das alles durch die Übertragung des Arierparagraphen auf die Kirche. Unser DC-LKA* stellte den Grundsatz auf: In einer deutschen Kirche dürfte der Gemeinde nicht zugemutet werden, sich von jüdischen Pfarrern bedienen zu lassen. Das war für mich und viele Christen eine Verletzung unsres christlichen Glaubens: ‚Hier ist kein Jude noch Grieche, denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu‘ (Gal. 3, 28; Röm. 10, 12). Nach diesem Grundsatz wäre weder Paulus noch sonst ein Apostel, ja nicht einmal der Herr Christus selber als Verkündiger in einer deutschen Kirche zu dulden. Dabei konnte von keinem Notstand einer Überfremdung geredet werden. In Sachsen gab es unter 1300 Pfarrern nur zwei Halbjuden und einen Volljuden. Letzterer war sogar ein eifriger DC. Es hat ihm aber nichts genützt.

Beinahe noch ärger war es, daß nun auch sonst ganz brave Leute daran Anstoß nahmen, daß einzelne Judenchristen an den Gottesdiensten teilnahmen. So beschwerten sich z. B. einige bei mir über eine jüdische Frau, deren Anwesenheit in der Bibelstunde sie verletzte. Sie konnten nicht begreifen, was ich ihnen dazu sagte. Das bewies mir schlagartig, wie ernst die Lage der Kirche durch die NS-Propaganda geworden war. Jene jüdische Frau, die in ihrer bescheidenen Art sofort bereit war, der Bibelstunde fernzubleiben, war hocherfreut, als ich ihr kategorisch erklärte, sie habe dasselbe Recht wie jeder andere zu kommen, solange ich Pfarrer an der Frauenkirche sei“ (S. 30-32).

* Deutsche Christen-Landeskirchenamt

Ausgewiesen

Hahn selbst erlebte die Novemberpogrome von 1938 nicht mehr in Sachsen. Am 12. Mai 1938 war er wegen seiner bekenntnistreuen Haltung des Landes verwiesen worden. Gleichwohl erwähnt er den Pogrom:

„Aber in diese Tage (9.11.1938) fiel das grauenhafte Ereignis der Judenpogrome, das Niederbrennen der Synagogen, das Zerstören jüdischer Geschäfte, die ‚Kristallnacht‘. Wir waren aufs tiefste erschüttert. [Sohn] Hans erzählte, daß er die Abführung zweier jüdischer Männer durch die SS gesehen habe. Es brannte in unsern Herzen das Gefühl, daß man sich dagegen wehren müsse, aber bis heute schämen wir uns, daß nichts geschehen ist“ (S. 193).

Nach dem Krieg unterzeichnete Hahn als Vertreter der sächsischen evangelisch-lutherischen Kirche das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 mit.