Category: Bruchstücke 1938|2018

Brennende Synagoge und Kunst (1): Die Synagoge in Chemnitz

Wie schon mehrfach betont, prägt die öffentliche Erinnerung an die Novemberpogrome von 1938 das Bild der brennenden oder zerstörten Synagoge.

Ein Gemälde der brennenden Chemnitzer Synagoge

Auch in die Kunst, hier konkret die Malerei, fanden die brennenden Synagogen Eingang. Nicht selten wurden nach 1990 entstandene Synagogenneubauten, zerstörter Synagogenbau und Ruine kombiniert.

Im neuen Chemnitzer Gemeindezentrum befindet sich ein Gemälde, das die brennende Synagoge am Stephansplatz zeigt. Das von Adolf Diamant, der aus Chemnitz stammte und selbst verfolgt war, gestiftete Bild entstand auf Grundlage einer Fotografie vom Morgen des 10. November 1938. Es zeigt die Flammen vor der düsteren Kulisse des Gebäudes.

Das Bild ist mit „Chemnitz“ und Künstlernamen (Bon…?) signiert.

 

Die Zionskirche in Dresden: Die Ruine für den Synagogenneubau?

Als in Dresden Mitte der 1990er-Jahre die Debatten um den Neubau einer Synagoge liefen, gab es auch den Vorschlag, die Ruine der bei den Luftangriffen zerstörten Zionskirche an der Nürnberger Straße für den Synagogenbau zu nutzen. Um die Kirche hatte es während der Pogrome einen bizarren Namensstreit gegeben.

Ablehnung durch die Jüdische Gemeinde

Ein Artikel in den ‚Dresdner Neuesten Nachrichten‘ vom März 1996 wusste dann allerdings zu berichten, dass die Jüdische Gemeinde Dresden den Vorschlag abgelehnt habe. Als Begründung wurde die Monumentalität der noch erhaltenen Bausubstanz angeführt.

Die Zeit der Standortdiskussionen

Ehe die Entscheidung für einen modernen Neubau am Hasenberg fiel, dem alten Standort der 1938 zerstörten Synagoge, war in dieser Zeit – unter anderem von Adolf Diamant favorisiert – auch ein (verkleinerter) Neubau der alten Sempersynagoge im Gespräch.

Zum Wettbewerb für den Neubau am Hasenberg kann gegenwärtig eine kleine Ausstellung in den Räumen von HATiKVA in der Dresdner Neustadt besichtigt werden.

Denunziationen (1): Der Fall des Leipziger Molkereibetreibers Henze

Gerichts- und Polizeiakten, sofern sie überliefert sind, zeigen, dass es einige Fälle gab, in denen Unmutsäußerungen oder Pogromkritik zu Denunziationen durch Dritte führten.

Ein Molkereibetreiber in Leipzig

In Leipzig zeigte der Kreisbeauftragte des Winterhilfswerks, H. Fischer, den Molkereiinhaber Otto Henze beim Polizeipräsidium Leipzig an. Er warf Henze vor, in einer Nähstube des Winterhilfswerks am 10. November geäußert zu haben, dass „so grosse Unruhe in der Stadt [herrsche], die Menschen […] blutig geschlagen [werden]. Unser Staat ist über Nacht ein Räuberstaat geworden.“

Vernehmung durch die Geheime Staatspolizei

Im Februar 1939 wurde Henze durch die Leipziger Gestapo vernommen. Er betonte dabei, dass er lediglich kritisiert habe, was ihm Dritte berichtet hätten, und zwar, „daß Plünderungen und Diebstähle geschehen seien und sogar Leute in den Schaufenstern gestanden hätten und sich Mäntel angezogen haben. Keinesfalls wollt [sic!] ich dadurch Partei für die Juden ergreifen.“

Zudem versicherte er, treu hinter der nationalsozialistischen Regierung zu stehen.

Einstellung des Verfahrens beim Sondergericht Freiberg

Henzes Fall kam an das Freiberger Sondergericht, das 1933 eigens zur Ahndung von Verbrechen gegen den Staat nach der sogenannten ‚Reichstagsbrandverordnung‘ (Verordnung zum Schutz von Volk und Staat) eingerichtet worden war. Das Gericht stellte das Verfahren allerdings mangels rechtlicher Handhabe ein.

Die entsprechende Sondergerichtsakte ist im Hauptstaatsarchiv in Dresden überliefert.

Pogromgedenken im Exil 1939

Bereits 1939 gedachten ins Exil geflohene Juden der Pogromgewalt vom November 1938 im Deutschen Reich. Nicht nur in Großbritannien fanden in den Synagogen Gedenkgottesdienste statt. Zudem wurden Memorbücher für die zerstörten Synagogen und jüdischen Gemeinden angelegt sowie Augenzeugenberichte gesammelt.

Die Exilpresse erinnert an die Gewalt

In New York erschien im November 1939 ein Artikel in der deutschsprachigen jüdischen Zeitung ‚Der Aufbau‘, der nochmals ein Resümee der Pogromgewalt zu ziehen versuchte und gleichzeitig im Kontext des inzwischen ausgebrochenen Zweiten Weltkriegs stand. Darin hieß es: „Die Tatsache, dass es am 10. November 1938 möglich war, auf das Kommando einer kleinen Bande von demoralisierten Machthabern hin, den Mob zum Rauben, Töten und Plündern loszulassen, soll uns immer daran erinnern, wie oberflächlich jene Tünche an manchen Leuten haftet, die sie so gern Nächstenliebe und Humanität nennen. Am 10. November 1938 ist etwas noch viel Schlimmeres geschehen: Die Masse des deutschen Volkes, die Masse jener Menschen, die wir lange Zeit für aufrecht und ehrlich, für rechtlich denkend und mutig gehalten hatten, die Masse der Deutschen hat nichts, gar nichts getan, um dem Mord und Raub an der wehrlosen jüdischen Bevölkerung Einhalt zu gebieten“ (zitiert nach: Gross, Raphael: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013, S. 83).

Im polnischen Konsulat in Leipzig

Helga Ehlert, geb. Dresner, berichtete nicht nur über die Flucht in polnische Konsulat in Leipzig am 10. November 1938, sondern auch über das, was sie dort erlebte:

„Wir waren fast zwei Tage im Konsulat. Meine Mutter erlitt einen Schwächeanfall, und der polnische Generalkonsul [Feliks] Chiczewski, ordnete an, daß sie in der oberen Etage, die seine Privaträume beherbergte, in einen Ruheraum kam und sich jemand um sie kümmerte. Die unteren Räume, die Eingangshalle und das Souterrain waren von Hunderten verängstigten polnischen Juden bevölkert. Sie weinten, waren total ratlos, wußten überhaupt nicht, was sie machen sollten. Es war entsetzlich.

Ich erinnere mich, daß ich ein grünes Kleid getragen habe. Aber ich war damals nicht so entsetzt, wie ich es heute bin, wo ich das mit dem Abstand und mit der Weisheit des Alters sehe. Ich war ein Backfisch, ein Flapper. Ich habe mit den Augen des Teenagers gesehen, und wie gesagt, meine Eltern haben alle politischen Dinge in der Nazizeit von uns ferngehalten. Wir waren ziemlich unbedarft, mein Bruder und ich. Aber die Situation im Konsulat hat uns die Augen etwas geöffnet. Wir waren dort zwei Tage, und in der Nacht hat der Konsul im Graten Stroh auslegen lassen, damit die Leute dort campieren konnten. Es waren so viele, es war kein Platz für sie im Garten und auch nicht in den Räumen. Also mußte man draußen in der Kälte campieren. Ich konnte auf einem Campingbett in einem großen Saal im Keller nächtigen. Von Schlaf war keine Rede, weil alles weinte und ratlos war. Am Tage haben Schaulustige vor dem Konsulat gestanden und interessiert auf die weinenden und klagenden Juden geschaut. Ich glaube, daß sie auch Schmähungen gerufen haben.

Wir konnten zwei oder drei Tage später wieder nach Hause gehen. Ich erinnere mich noch genau, daß der 9. und 10. November auf einen Mittwoch und auf einen Donnerstag fielen. Inzwischen lagen halbherzige Zusagen der Verwandten aus Edinburgh und aus Chicago vor, sie würden uns aufnehmen. Mein Vater war beherrscht von der Idee, daß er erst seine achtzigjährige Mutter bei Verwandten in Polen unterbringen müsse, ehe er mit seiner Familie nach Chicago reisen könne. Die Oma Dresner hatte nur einen Arm und war halbblind, und es gab in Polen eine relativ große Verwandtschaft, die sich um sie gekümmert hätte“ (abgedruckt in: Ehlert, Helga: Ich fühle mich nicht als Deutsche, in: Ostow, Robin (Hg.): Juden aus der DDR und die deutsche Wiedervereinigung. Elf Gespräche, Berlin 1996, S. 162–197, hier: S. 166-168).

Das Ende der Kindheit

Was Ehlert hier im Rückblick auch schilderte, war das Ende ihrer Kindheit und Unbeschwertheit. 1939 reiste sie mit ihrem Bruder Rolf über einen Kindertransport nach England aus. Ihre Eltern und weitere Verwandte kamen während der Schoa ums Leben. Sie selbst kehrte nach Kriegsende nach Ostdeutschland zurück und starb 2014.

Radiopropaganda nach den Pogromen

Der US-amerikanische Historiker Alan E. Steinweis gilt als einer der besten Kenner der Ereignisse der Pogrome vom November 1938.

Radio und Pogrom

Bei seinen Recherchen zu der antisemitischen Gewalt warf Steinweis auch einen Blick auf das deutsche Radioprogramm. Er stellte fest, dass nach den Pogromen nicht nur in den Zeitungen eine wüste antisemitische Propagandakampagne angefahren worden war, sondern auch im Radio. Seien in den Wochen zuvor kaum antisemitische Sendungen gelaufen, habe es danach eine große Zahl an entsprechenden Beiträgen gegeben, darunter solche zur Propagandaausstellung „Der ewige Jude“, zur „Judenfrage“, zu „jüdischer“ Kriminalität, zu den Rothschilds oder zu den Juden in den USA und der Sowjetunion.

Im Dezember habe die Anzahl der antisemitischen Beiträge dann abgenommen. Diese blieben aber weiterhin Bestandteil des Programms. Auch hier lässt sich eine ähnliche Tendenz auch für die Pressepropaganda feststellen.

Beide, Zeitung und Radio, erreichten auch die Hörer in Sachsen – jene, die verfolgt wurden, ebenso wie jene, die verfolgten oder zusahen.

Zur Lektüre: Steinweis, Alan E.: Kristallnacht 1938, Cambridge/London 2009.

Verfolgte schreiben in der Emigration über die Pogrome

Im August 1939 lobte die ‚New York Times‘ einen Aufsatzwettbewerb aus: Augenzeugen sollten berichten, was sie nach dem 30. Januar 1933 im Deutschen Reich erlebt hatten.

263 Manuskripte

Ausgelobt hatten den Wettbewerb Wissenschaftler der Havard University unter der Leitung von Edward Hartshorne. Dieser plante ursprünglich ein Buch unter dem Titel ‚Nazi Madness. November 1938‘, das 1941 erscheinen sollte, allerdings nie die Öffentlichkeit erblickte.

Ausführlich über diese Geschichte berichtet ein aktuell über SPIEGEL ONLINE abrufbarer Artikel, der auch auf die Hintergründe eingeht: http://www.spiegel.de/einestages/emigranten-preisausschreiben-augenzeugen-ueber-novemberpogrome-1938-a-1203921.html

2009 erschien eine Auswahl der von Hartshorne gesammelten Berichte als Edition, herausgegeben von Ute Gerhardt und Thomas Karlauf (Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938).

Die Verteilung der Pogromgewalt in Sachsen (2): Forschungsdichte

Einhergehend mit den Bezügen zwischen Pogromgewalt und Bevölkerungsdichte lässt sich auch eine größere Forschungsdichte in den Regionen des heutigen Sachsen annehmen, in denen bis 1938 viele Menschen lebten, die dann als Juden verfolgt waren.

Lokale Forschungsschwerpunkte

So sind insbesondere die Geschichten jener Städte, in denen jüdische Gemeinden bestanden, relativ gut erforscht. Für einzelne sächsische Regionen, wie das Vogtland, den Chemnitzer Raum oder die Oberlausitz haben sich darüber hinaus einzelne Forscher oder Forschergruppen mit der Geschichte von als Juden verfolgten Menschen intensiv beschäftigt. Dadurch sind auch für kleinere Städte Pogromereignisse bekannt geworden.

Die Verteilung der Pogromgewalt in Sachsen (1): Bevölkerungsdichte

Die Karte zu den Novemberpogromen von 1938 auf dem Gebiet des heutigen Sachsen zeigt eine Konzentration der Gewalt und Verhaftungen auf den südwestsächsischen Raum. Abgesehen von den Orten mit jüdischen Gemeinden ließen sich bislang für Nord- und Ostsachsen deutlich weniger Hinweise zu lokalen Pogromen finden.

Bevölkerungsdichte

Hauptgrund für die räumliche Verteilung dürfte tatsächlich die Bevölkerungsdichte des damaligen Sachsen sein. Die meisten Menschen außerhalb der Großstädte lebten im stark industrialisierten Raum um Chemnitz. In diesen Gebieten ließen sich etwa ab der Gründung des Kaiserreichs auch zahlreiche jüdische oder von Juden abstammende Händler und Kaufleute nieder.

Sofern diese im Herbst 1938 nicht schon in die größeren Städte übergesiedelt oder ins Ausland emigriert waren, traf sie auch in den kleineren Orten die Wucht der Pogrome.

Eine Karte zur Bevölkerungsdichte findet sich unter: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Lange_diercke_sachsen_freistaat_sachsen_volksdichte.jpg

Konfessions-, Voll-, Halb- und Vierteljuden: Statistische Erhebungen durch das nationalsozialistische Regime

Nach 1933 ist es in vielen Fällen extrem schwer, genaue Zahlen über die in den einzelnen sächsischen Orten lebenden und als Juden verfolgten Menschen zu erhalten. Dies lag einerseits daran, dass durch Migration im Inland – den Wegzug aus den kleineren Orten in die mutmaßlich größere Anonymität der Großstädte – und ins Ausland zu erheblichen Fluktuationen kam. Andererseits muss immer genau beachtete werden, auf welcher Zahlen- und Definitionsgrundlage die ‚Juden‘ erfasst wurden.

Statistische Zahlen von 1937

Der Sicherheitsdienst der SS erstellte 1937 eine Statistik über die im Deutschen Reich als Juden verfolgten Menschen: Nach ihren Schätzungen lebten im Juni 1937 noch 392.000 Konfessionsjuden in Deutschland. Etwa 107.000 seien seit 1933 ausgewandert. Die Gesamtzahl, so die Notiz des Referatsleiters Herbert Hagen, erhöhe sich nach Schätzungen des Direktors des Statistischen Reichsamts um weitere 120.000 ‚Volljuden‘ nichtjüdischen Bekenntnisses sowie etwa 160.000 ‚Halb-‚ und ‚Vierteljuden‘.

Der SD ging im Sommer 1937 also von etwa 672.000 Menschen im Deutschen Reich aus, die vollkommen ausgegrenzt und zur Auswanderung gedrängt werden sollten.

Die Notiz Hagens ist auszugsweise ediert bei: Pätzold, Kurt (Hg.): Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, 4. Aufl., Leipzig 1991, S. 140 f.