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Bericht von Justin Sonder (Jg. 1925) über die Pogromereignisse in Chemnitz

In seinen Erinnerungen berichtet der damals 13-jährige und ebenfalls als ‚Jude‘ verfolgte Justin Sonder von den Chemnitzer Pogromereignissen und die Folgen für seine Familie:

„In der Nacht des 9. November bin ich vom Radau aufgewacht, von unserer Wohnung in der Lindenstraße waren es Luftlinie vielleicht 40 Meter bis zu Schockens. Ich habe das Fenster geöffnet und sah Fackeln, Lichtschein, Männer in Räuberzivil, wie sie mit Beilen die Schaufensterscheiben zertrümmerten.

Mein Vater ist auf die Straße gegangen, als er zurückkam, sagte er wörtlich: ‚In Chemnitz ist der Teufel los. Die Geschäfte sind zertrümmert, die Auslagen geraubt und die Synagoge soll brennen.‘ Mehr wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, auch nicht, dass ein Mord geschehen war. In den Morgenstunden des 10. November bin ich mit den Eltern mit der Straßenbahn nach Hilbersdorf gefahren, dort bestiegen wir einen Bummelzug und fuhren nach Freital. Mein Vater hatte überall christliche Freunde, zu denen sind wir gegangen. In den Nachmittagsstunden bin ich mit meiner Mutter wieder zurück nach Hause. Ich sollte, wenn die Nazis oder die Gestapo zu uns kämen, ihnen sagen, dass mein Vater zu seinem kranken Vater nach Kitzingen gereist sei. Punkt neun Uhr abends klingelte es. Meine Mutter lag schon im Bett, ich war in meinem kleinen Zimmer. Die Nazis fragten mich: ‚Wo ist denn dein Vater?‘ Wie mir eingeimpft worden war, sagte ich: ‚Mein Vater ist schon ein paar Tage nicht mehr zu Hause.‘ ‚Wo ist er denn?‘ ‚Der ist zu seinem kranken Vater gefahren.‘ ‚Wo ist denn deine Mutter?‘ Meine Mutter erschien. Das war schon imposant, wie meine Mutter die Lage beherrschte, wie sie mit der Gestapo verhandelte. Ich sagte hinterher zu ihr: ‚Das war das Größte, was ich von dir je erlebt habe.‘ Sie verhandelte so gekonnt, als wäre sie eine Schauspielerin. Die Gestapo schaute natürlich überall nach und zog dann unverrichteter Dinge wieder ab. Mein Vater blieb wochenlang in Dresden und dessen Hinterland und arbeitete dort in einer Bügelei, um ein paar Pfennige zu verdienen. In Chemnitz tauchte er erst Monate später wieder auf“

(abgedruckt in: Zellmer, Margitta (Red.): Chemnitz – Auschwitz und zurück. Aus dem Leben von Justin Sonder, Würzburg 2013, 27).

Interview mit Justin Sonder

Einen ausführlichen Bericht Sonders für die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung gibt es als Videointerview (zum Pogrom in Chemnitz 1938 ab etwa Minute 01:55):

Sonder überlebte Auschwitz, Todesmarsch und weitere Konzentrationslager. Nach dem Krieg arbeitete er als Kriminalist und war als Zeuge am Prozess gegen den ehemaligen Dresdner Gestapo-Chef Henry Schmidt beteiligt.

Antisemitische Propaganda und Berichterstattung

Das Attentat als Vorwand für antisemitische Propaganda

Bereits ab den Abendausgaben des 7. November 1938 berichteten deutsche Zeitungen über das Attentat Grynszpans auf den Legationsrat vom Rath in Paris. In welcher Form zu berichten war, dazu gab es konkrete Presseanweisungen.

Auch das Bautzener Tageblatt machte am 8. November 1938 auf der ersten Seite mit dem Ereignis auf:

Unter dem Titel „Heimtückischer Mordanschlag in der deutschen Botschaft in Paris. Racheakt des polnischen Juden Grynszpan“ wurden auch Konsequenzen angedroht: „Dieses Verbrechen kann für die Juden in Deutschland, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit, nicht ohne Folgen bleiben. Seit Jahr und Tag sieht das internationale Judentum seine Hauptaufgabe darin, Deutschland zu beleidigen und zu verleumden.“ Das Attentat, so der Artikel weiter, ziele auf die Vernichtung des nationalsozialistischen Deutschland durch die ‚Juden‘ und die ‚jüdische Weltliga‘.

Die Androhung von Gewalt

Die abschließenden Worte des Propagandaartikels deuteten schließlich die angekündigten „Folgen“ für die Juden bereits an, wie sie in den Folgetagen tatsächlich das Deutsche Reich erschüttern sollten. Dort heißt es, unter Verleugnung der bisherigen Gewalt gegen als ‚Juden‘ Verfolgte: „Im nationalsozialistischen Deutschland ist der unerträglich gewordene jüdische Einfluß beseitigt worden, aber keinem Juden ist dabei ein Haar gekrümmt, geschweige denn nach dem Leben getrachtet worden. Um so größer ist die Empörung, die dieses neue hinterhältige Verbrechen in Deutschland ausgelöst hat.“ Noch deutlicher formulierte es das Zittauer Morgen-Blatt vom 10. November 1938, wo es heißt: „Nachdem nunmehr die Blutschuld Alljudas noch größer geworden ist, wird Deutschland nicht umhin können, seine Hand schwer auf die Juden zu legen, die noch das deutsche Gastrecht genießen.“ Die Pogrome waren da auch in Sachsen bereits im vollen Gang.

http://bruchstuecke1938.de

Das Attentat

Am 7. November 1938 betrat der aus Deutschland nach Frankreich geflohene 17-jährige Herszel Grynszpan die deutsche Botschaft in Paris. Unter dem Vorwand, geheime Dokumente übergeben zu wollen, wurde er zu dem Legationsrat Ernst vom Rath geführt. Grynszpan schoss vom Rath nieder – in der Absicht, ein Zeichen gegen die Judenverfolgung im Deutschen Reich in die Welt zu senden. Der Tod des Diplomaten am 9. November bot den Nationalsozialisten dann die Grundlage, mit massiver Gewalt gegen als ‚Juden‘ Verfolgte, ihre Wohnungen, Geschäfte und Unternehmen sowie die Einrichtungen der jüdischen Gemeinden vorzugehen.

Dokudrama „Das kurze, mutige Leben des Herschel Grünspan“

Zu den Handlungszwängen und Hintergründen als auch die Folgen des Attentats entstand 2007 unter der Regie von Joel Calmettes das Dokudrama „Das kurze, mutige Leben des Herschel Grünspan“ (frz. Original: Livrez-nous Grynszpan), das 2008 bei ARTE ausgestrahlt wurde.

Mehr zum Film unter: http://www.tvtoday.de/entertainment/kino/das-kurze-mutige-leben-des-herschel-gruenspan_3274040.html.

Die Novemberpogrome in Sachsen – Bruchstücke 1938|2018

Fast auf den Tag genau 79 Jahre ist es her, dass als ‚Juden‘ verfolgte Menschen im gesamten Deutschen Reich von einer massiven Welle der Gewalt, Zerstörung, Plünderung bis hin zur Ermordung erfasst wurden. Die am 9./10. November 1938 brennende Synagoge bestimmt als historische Chiffre bis heute die Gedenkkultur. Betroffen waren aber vor allem Menschen, die aufgrund ihrer Religion oder Abstammung aus rassischen Gründen als ‚Juden‘ verfolgt wurden. Und in den meisten Fällen waren die Nachbarn Zuschauer, wenn nicht sogar Täter, viel zu selten Helfer oder Beschützer der Verfolgten.

Nicht anders verhielt es sich in Sachsen, wo in bislang 60 Orten Übergriffe und Verhaftungen dokumentiert sind. Bis heute erlaubt die Auseinandersetzung mit den Pogromen und den seinerzeit Beteiligten, sich mit dem Umgang von Menschen miteinander, Vorurteilen und Gewalt zu beschäftigen. Diese Fragen sind ein wichtiges Fundament unserer demokratischen Gesellschaft und eben ein Teil jener Vergangenheit, die unsere Gegenwart und Zukunft mitbestimmt.

Tägliche „Bruchstücke“ zu den Pogromereignissen in Sachsen und ihren Hintergründen

Aus diesem Grund wird es bis zum 80. Jahrestag der Pogrome 2018 von nun an fast jeden Tag einen kleinen Beitrag geben, der in das Feld der Novemberpogrome, in die Vorgeschichte(n), die lokalen Ereignisse, die beteiligten Menschen, die Erinnerungspolitik und Quellen hinein führt. Diese „Bruchstücke“ vermitteln mithin verschiedene Dimensionen und Ebenen der Novemberpogrome. Dabei werde ich immer wieder auch auf die vielen großen und kleinen Texte eingehen, die von Forschern für einzelne Orte verfasst wurden.

Haben Sie noch eine „Geschichte“, die mit den Pogromen in Verbindung steht? Oder kennen Sie jemanden, der persönlich Augenzeuge der Pogrome war? Dann würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mit mir Kontakt aufnehmen würden und diese „Bruchstücke“ mit mir teilen.