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Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (4): Müglitztal-Nachrichten

Auch die Müglitztal-Nachrichten berichteten am 12. November 1938 über die Pogromereignisse – wiederum mit dem Verweis auf die unterstellte ‚jüdische‘ Brandstiftung bei Bamberger & Hertz in Leipzig.

Pogromgewalt in Dresden

Ausführlicher geht das Blatt auf den Synagogenbrand in Dresden ein:

„Dresden. In den frühen Morgenstunden des Donnerstag wurde die Feuerwehr nach der in der Zeughausstraße gelegenen Synagoge gerufen. Die Kuppel des jüdischen Tempels brannte lichterloh und die Wehr mußte sich auf den Schutz der umliegenden Gebäude, vor allem einer angrenzenden Holzhandlung, beschränken. Mit unheimlicher Geschwindigkeit griff der Brand um sich. In der vierten Morgenstunde bildete der ganze Judentempel ein einziges Feuermeer, und unter lautem Krachen brachen die Gewölbe zusammen. Von der Synagoge stehen nur noch die Türme und Mauern und Pfeiler. In zahlreichen jüdischen Geschäften Dresdens wurden die Fensterscheiben eingeschlagen. Verschiedene Personen jüdischer Abstammung wurden in Schutzhaft genommen. Auch in anderen Städten Sachsens kam es zu ähnlichen Kundgebungen gegen die Juden“ (Müglitztal-Nachrichten 54, 91 (12.11.1938), Bl., [3]).

Wortgleiche Beiträge

Der Artikel, der fast wortgleich mit einigen Weglassungen auch im Oschatzer Gemeinnützigen (12.11.1938) und im Nossener Anzeiger (11.12.1938) erschien, nahm offenbar einen Beitrag in den Dresdner Nachrichten vom 11. November 1938 als Grundlage. Dort hieß es ausführlicher – auf die antisemitischen Unterstellungen im Text sei an dieser Stelle nur hingewiesen:

„Größte Empörung gegen Juda in Dresden. Die Synagoge abgebrannt – Zahlreiche Aktionen gegen Judengeschäfte

In den frühen Morgenstunden des Donnerstag wurde die Feuerwehr nach der in der Zeughausstraße gelegenen Synagoge gerufen. Die Kuppel des jüdischen Tempels brannte lichterloh und die Wehr mußte sich auf den Schutz der umliegenden Gebäude, vor allem einer angrenzenden Holzhandlung, beschränken. Mit unheimlicher Geschwindigkeit griff der Brand um sich. In der vierten Morgenstunde bildete der ganze Judentempel ein einziges Feuermeer, und unter lautem Krachen brachen die Gewölbe zusammen. Bereits in den Nachtstunden sammelte sich eine große Menschenmenge an der Brandstätte. Am Vormittag war die abgebrannte Synagoge das Ziel vieler Schaulustiger. Polizei und Feuerwehr sperrten die Brandstätte gegen die Menge ab, aus deren Reihen immer wieder erregte Rufe gegen das Judentum ertönten. Die Entfernung der Davidsterne von den stehengebliebenen Türmen durch die Feuerwehr am späten Vormittag wurde mit großen Beifall aufgenommen. Von der Synagoge selbst stehen nur noch die Türme, Mauern und Pfeiler. Durch die leeren, rauchgeschwärzten Fensterhöhlen sind die Träger des zusammengestürzten Eisengerüstes zu sehen. Das Betreten der Brandstätte ist nicht möglich, da die Gefahr besteht, daß die noch stehengebliebenen Mauern durch herrschenden Wind zusammenstürzen.

Die berechtigte Empörung über die feige jüdische Mordtat kam in Dresden auch am Donnerstagmorgen durch eine Anzahl Kundgebungen zum Ausdruck. Gefolgschaften hiesiger Betriebe nahmen gegen die jüdischen Inhaber Stellung und forderten ihre Entfernung.

In zahlreichen jüdischen Geschäften Dresdens wurden die Fensterscheiben eingeschlagen. Verschiedene Personen jüdischer Abstammung wurden in Schutzhaft genommen.

Auch in anderen Städten Sachsens kam es zu ähnlichen Kundgebungen gegen die Juden“ (Dresdner Nachrichten, 529 (10.11.1938), 3).

Auf die hier vorgegebene Chronologie des Brandes wird noch einzugehen sein – sie ist wohl nicht zu halten.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (3): Lommatzscher Anzeiger und Tageblatt

Die Zeitung Lommatzscher Anzeiger und Tageblatt liefert unter dem Datum des 11. November 1938 ein Beispiel dafür, dass die reichsweiten und sächsischen Pogrome auch in jenen Orten publik wurden, an denen es nicht zu Gewaltausbrüchen und Verhaftungen kam.

Reich und Region – Pogromberichte

Das Blatt berichtete so von den Synagogenbränden und Geschäftsdemolierungen, die unter anderem in Berlin vorgekommen seien. Weiter heißt es:

„Aus Köln, Lübeck, Leipzig und anderen Städten kommen ähnliche Meldungen.

In Dresden brannte in der Nacht zum Donnerstag die in der Zeughausstraße am Altstädter Aufgang zur Carolabrücke gelegene Synagoge. Das Feuer legte den großen Bau in kurzer Zeit in Asche. Es stehen nur noch die Umfassungsmauern. Die Feuerwehr mußte sich auf den Schutz angrenzender Gebäude beschränken. In zahlreichen jüdischen Geschäften Dresdens wurden die Fensterscheiben eingeschlagen. Die jüdische Schule in der Fröbelstraße wurde geschlossen. Etwa 100 Personen jüdischer Abstammung wurden in Schutzhaft genommen.

Auch in Leipzig, Meißen und anderen Städten ist es zu ähnlichen Demonstrationen gekommen“ (Lommatzscher Anzeiger und Tageblatt 89, 264 (11.11.1938), [2]).

Die kurze und mit Blick auf die Wortwahl relativ moderate Berichterstattung ergänzte auch hier der Bericht über die den Kaufhauseigentümern unterstellte Brandstiftung bei Bamberger & Hertz in Leipzig – in Wahrheit eine Tat von SA-Männern. Die Verhaftung von „[e]twa 100 Personen jüdischer Abstammung“ verweist hier nochmals auf die ‚rassische‘ Einordnung der Verfolgten, vor der auch die Taufe oder Konfessionslosigkeit nicht schützte.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung (2): Reichenbacher Tageblatt und Anzeiger

Die meisten sächsischen Zeitungen hielten sich strikt an die Vorgaben des Reichspropagandaministeriums. Dies zeigt das Beispiel des Reichenbacher Tageblatts und Anzeigers, der am 10. November über die lokalen Ausschreitungen berichtete.

Darin heißt es wörtlich:

„Kundgebungen gegen Juden in Reichenbach. Wie in anderen Orten, so fanden aus der Erbitterung über den feigen Pariser Mordanschlag heraus gestern abend auch in Reichenbach Kundgebungen gegen die Juden statt. Im Verlaufe dieser Demonstrationen wurden einige hier wohnende Juden in Schutzhaft genommen.“

Euphemismen der Gewalt

Was auf den ersten Blick wie ein beiläufiger Bericht über Demonstration und Verhaftung klingt, war nicht weniger als eine antisemitische Protestkundgebung. Zwei als Juden Verfolgte wurden nach Erkenntnissen von Waltraud Schmidt, die zur Geschichte der Juden im Vogtland forscht, verhaftet. Zudem verschweigt der Zeitungsartikel, dass es auch in Reichenbach zu Ausschreitungen kam.

Pogrom und nationalsozialistische Presselenkung in Sachsen (1): Vorgaben und Steuerung

Zeitungsartikel sind eine beliebte Quelle für die Lokalforschung. Gerade für die Zeit des Nationalsozialismus ist jedoch besondere Vorsicht im Umgang und bei der Auswertung geboten: Insbesondere Artikel, die sich der Ausgrenzung und Verfolgung von Juden zuwenden, sind zunehmend inhaltlich entlang der antisemitischen Staatsideologie des Nationalsozialismus orientiert. Und: Sie werden auch bewusst eingesetzt, um bestimmte Stimmungen innerhalb der Bevölkerung zu erzeugen als auch politische Ziele zu erreichen oder gar eine Chronologie von Ereignisse vorzugeben, die so nie stattfanden.

Das Schriftleitergesetz (1934)

Bereits 1934 wurde durch das Schriftleitergesetz faktisch eine Gleichschaltung von Presseberichterstattung und -fotografie erreicht. Journalisten und Fotografen wurden als ‚Diener des Staates‘ betrachtet, denen sich Negativdarstellungen gleichsam verboten (vgl. Kaufmann, Christoph: Braune Bilder. Fotografie im Nationalsozialismus, in: Liebscher, Thomas (Hg.): Leipzig. Fotografie seit 1839, Leipzig 2011, S. 92–97, hier: S. 92).

Die Novemberpogrome und die Pressesteuerung

Vor allem über die 1934 ins Leben gerufene Institution des Deutschen Nachrichtenbüros wurden Berichte des nationalsozialistischen Regimes über die Zeitungspresse verbreitet. Das Nachrichtenbüro unterstand dem Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung, also faktisch Joseph Goebbels.

Bereits nach dem Attentat von Herszel Grynszpan auf Ernst vom Rath in Paris am 7. November 1938 ergingen genaue Anweisungen wie und was genau darüber zu berichten sei (ausführlich: Peter, Karen (Bearb.): NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, Bd. 6/III: 1938, München 1999). Berichte zu den lokalen Pogromen sollten etwa nicht auf der ersten Seite erscheinen, wo mit dem Tod des Botschaftsmitarbeiters und allgemeiner antisemitischer Hetze groß aufgemacht wurde.

Goebbels selbst inszenierte die Pogrome am 10. November 1938 vor Vertretern der Auslandspresse nochmals als ‚spontanen Volkszorn‘. Dabei betonte er, dass keinen Juden ein Haar gekrümmt worden sei – eine mehr als offensichtliche Lüge.

Die sächsischen Lokalzeitungen

Bislang habe ich über sechzig verschiedene lokale Tages- und Wochenzeitungen für Sachsen einsehen können. Das Fazit ist einerseits ernüchternd und zeigt, wie wirksam sich die nationalsozialistische Presselenkung 1938 schon gestaltete: In den meisten Blättern finden sich fast wortgleiche antisemitisch aufgeladene Berichte über das Attentat und seine Folgen. Andererseits geben kleine Beiträge zu den lokalen Pogromen – bei aller angebrachten Vorsicht – immer wieder auch Hinweise auf vorgefallene Gewalt und Maßnahmen wie auch auf die Namen der Verfolgten.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (8): Die Flucht ins polnische Konsulat

Gerade für Leipzig, wie vor 1933 etwa die Hälfte der in Sachsen gezählten Juden (nach Glaubensbekenntnis) lebte, gibt es eine Vielzahl an Berichten von Augenzeugen und vor allem auch der Verfolgten selbst.

Von der ‚Polenaktion‘ betroffen

Zu den Verfolgten gehörte auch die Familie von Helga Ehlert, die 1923 in der Messestadt geboren wurde. Die Familie war bereits von der ‚Polenaktion‘ betroffen: Zwar konnte der Vater nach einer Warnung nach Rosenthal fliehen, während sie mit ihrer Mutter und dem Bruder ins polnische Konsulat geflüchtet sei. Die Onkel Wladek und Ignatz seien jedoch nach Polen abgeschoben worden.

Ein Warnanruf

Auch während der Pogrome in Leipzig erhielt die Familie eine telefonische Warnung. Ehlert erinnert sich:

„Neun oder zehn Tage nach der Polenaktion wurden wir wieder anonym angerufen, und man sagte uns, daß die Synagogen brennen und daß Läden und jüdische Geschäfte zerschlagen und geplündert werden, daß Leute aus ihren Betten gerissen und abtransportiert würden: ‚Rettet Euch!‘ Das war die Pogromnacht.

Daraufhin hat mein Vater seine Sekretärin, Frau Elfriede Beinemann, die heute noch lebt, angerufen. Ihr Mann, ein Elektromeister, hatte ein Auto. Er ist um sechs Uhr früh mit seinem Auto gekommen und hat meinen Vater, meine Mutter und uns Kinder abgeholt, um uns wiederum ins polnische Konsulat zu fahren. Wir fuhren durch Gohlis, ein gutbürgerliches Viertel. Alles war ruhig, man hat nichts gemerkt von Judenverhaftungen oder kaputtgeschlagenen Geschäften, gar nichts. Und dann kamen wir mit dem Auto ins Stadtzentrum, und ich erinnere mich, daß mein Vater, obwohl es noch dunkel war, meinem Bruder befahl, er solle sich ducken, damit niemand sein schwarzes Haar und sein jüdisches Aussehen erkennen könne, falls man an einer Ampel halten müsse. Wir sind die Pfaffendorfer Straße hinuntergefahren, und als wir am Tröndlinring waren, wo rechts die Gottschedstraße abging, sahen wir, wie dort die Synagoge loderte. Alles ringsum war noch in Nacht gehüllt, aber die Synagoge loderte. Wir waren liberale Juden. Mein Vater rief: ‚Um Gottes willen!‘ Herr Beinemann war so erschrocken, er hielt an, und wir konnten für Momente die brennende Synagoge sehen. Dann fuhr er weiter und lieferte uns im polnischen Konsulat ab. […].

Wir konnten zwei oder drei Tage später wieder nach Hause gehen. Ich erinnere mich noch genau, daß der 9. und 10. November auf einen Mittwoch und auf einen Donnerstag fielen. Inzwischen lagen halbherzige Zusagen der Verwandten aus Edinburgh und aus Chicago vor, sie würden uns aufnehmen. Mein Vater war beherrscht von der Idee, daß er erst seine achtzigjährige Mutter bei Verwandten in Polen unterbringen müsse, ehe er mit seiner Familie nach Chicago reisen könne“ (Ehlert, Helga: Ich fühle mich nicht als Deutsche, in: Ostow, Robin (Hg.): Juden aus der DDR und die deutsche Wiedervereinigung. Elf Gespräche, Berlin 1996, S. 162–197, hier: S. 166-168).

Emigration

Ehlert und ihr Bruder gelangten mit einem Kindertransport nach England. Ihre Eltern wurden 1939 nach Polen abgeschoben. Ehlert kehrte 1945 wieder nach Deutschland zurück, arbeitete unter anderem an der TU Dresden und ging später nach Berlin.

Victor Klemperers Bemühungen um Emigration (2): Das ‚Büro Heinrich Spiero‘ in Berlin

Victor Klemperer wendete sich bei seinen Bemühungen um Emigration nach den Novemberpogromen nicht nur an Laura Livingston, sondern – vermittelt über den Kontaktmann des ‚Büros Grüber‘ in Dresden, Max von Loeben – auch an Heinrich Spiero in Berlin (siehe auch Klemperers Tagebucheintrag unter dem 17.01.1939).

Büro Heinrich Spiero (1937-1939)

Wie das ‚Büro Laura Livingstone‘ und das ‚Büro Grüber‘ engagierte sich Spiero, der eigentlich Schriftsteller und Literaturhistoriker war, für als ‚Juden‘ verfolgte Christen.

Spiero selbst war trotz seiner Taufe als ‚Volljude‘ verfolgt. Er leitete zeitweilig die Vereinigung nichtarischer Christen (Paulusbund), die 1937 verboten wurde. 1939 wurde das Büro Heinrich Spiero in das Büro Grüber, die offizielle Hilfsstelle der Bekennenden Kirche eingegliedert. Spiero starb 1947 in Berlin.

Klemperers Hilfeersuchen

In einem Brief vom 15. Januar 1939 schrieb Klemperer an Spiero: „In schwieriger Zeit und von jeder Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens abgeschlossen, suche ich in einem beliebigen Land und Erdteil einen Lehrposten, der nur meine Frau und mich bescheiden ernähren soll“ (Brief abgedruckt in: Nowojski, Walter; Holdack, Nele (Hg.): Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen, Berlin 2017, S. 248-250, hier: S. 249).

Klemperer bot auch an, zu einem Gespräch nach Berlin zu kommen. Eine Antwort auf den Brief ist nicht bekannt. Mit seinen Auswanderungsbemühungen scheiterte Klemperer bekanntlich.

Literaturhinweis:

Rohr, Anna: Dr. Heinrich Spiero (1876-1947). Sein Wirken für die Christen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime, Berlin 2015.

Victor Klemperers Bemühungen um Emigration (1): Das ‚Büro Laura Livingstone‘ in Berlin

Nicht nur die Tagebücher Victor Klemperers nach den Pogromen vom November 1938, sondern auch seine Briefe belegen, wie fieberhaft er sich – wenn auch vergebens – um Ausreise bemühte.

Büro Laura Livingston (1937-1939)

Am 11. Dezember 1938 wendete sich Klemperer in Berlin an Laura Livingstone. Sie war die Schwägerin des Bischofs von Chichester, George Bell, der sich in der Frage der Hilfe für als ‚Juden‘ verfolgte Christen um Zusammenarbeit der englischen Kirche mit der evangelischen Kirche und Hilfsstellen wie dem ‚Büro Grüber‘ bemühte.

Livingstone unterhielt in Berlin seit 1937 ein Büro, in dem die englische Kirche Verfolgten zu helfen versuchte. Ab Februar 1939 arbeitete sie mit dem ‚Büro Grüber‘ zusammen (mehr dazu u. a. bei: Röhm, Eberhard; Thierfelder, Jörg: Juden, Christen, Deutsche, 1933-1945, Bd. 2, 2, Stuttgart 1992, S. 254-257).

Klemperers Hilfeersuchen

Klemperer schrieb ihr von seinen Bemühungen um Emigration und die Bereitschaft zur Annahme einer beliebigen Stelle im Ausland. Und er schildert ein Grundproblem, mit dem verfolgte ‚nichtarische‘ Christen vielfach konfrontiert waren:

„Die besondere Schwierigkeit liegt für mich darin, das ich, von jüdischen Eltern stammend, unter die deutsche Judengesetzgebung falle, andrerseits aber, als evangelisch-lutherisch und mit einer evangelischen und arischen Frau verheiratet, die Hilfe oder Vermittlung spezifisch jüdischer Einrichtungen nicht in Anspruch nehmen kann“ (Brief abgedruckt in: Nowojski, Walter; Holdack, Nele (Hg.): Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen, Berlin 2017, S. 233-235, hier: S. 234). In Klemperers Tagebüchern ist der Brief unter anderem im Eintrag vom 15. Dezember 1938 genannt.

Eine Antwort auf Klemperers Schreiben ist nicht bekannt. In seinen Tagebüchern gibt Klemperer aber unter dem 17. Januar 1939 den Hinweis, dass Livingstone es gewesen sei, die Max von Loeben zum Besuch bei Klemperer bewegt habe. Sie stellte also den Kontakt zum Büro Grüber her, dessen Vertrauensmann von Loeben in Dresden war.

Später (Tagebucheintrag vom 28.09.1941) nahm Klemperer noch einmal Bezug auf Livingstone: Im pessimistischen Rückblick angesichts der gescheiterten Emigrationsbemühungen merkte er an, dass er mit Livingstone die schlechtesten Erfahrungen gemacht habe.

Literaturhinweis zum Büro Laura Livingstone

Rohr, Anna: Dr. Heinrich Spiero (1876-1947). Sein Wirken für die Christen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime, Berlin 2015, S. 248-257.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (1): Stämmige SS-Männer

In Chemnitz unterhielten die Eltern von Evyatar Friesel ein Konfektionsgeschäft in der Langen Straße 29. Die Familienmitglieder wurden als ‚Juden‘ verfolgt. Und sie waren ebenfalls von der Pogromgewalt betroffen. Es sei dies der Zeitpunkt gewesen, so Friesel in seinen Lebenserinnerungen, dass sie erkannt hätten, dass es höchste Zeit für die Emigration sei (Friesel, Evyatar: Ballade des äußeren Lebens. Memoiren, Leipzig 1997, S. 11 f.).

„‚Kristallnacht‘ – ich erinnere mich genau“

An die Pogrome erinnerte sich Friesel wie folgt: „Das Geschäft meiner Eltern lag nicht im Erdgeschoß, sondern eine Treppe hoch, direkt neben unseren Wohnräumen. Als ich am Morgen erwachte, sah ich, daß die großen Ladenfenster mit Pflastersteinen eingeworfen worden waren. Zwei stämmige SS-Männer waren die Treppe heraufgekommen und redeten mit lauter Stimme auf meine verschüchterten Eltern ein. Später ging ich hinaus. Es war ein kalter Morgen. Hie und da sah ich zerschlagene Schaufenster von Geschäften, bei denen ich gar nicht gewußt hatte, daß die Besitzer Juden waren. Ich kam zur Hauptsynagoge, einem schönen und stattlichen Gebäude. Nur seine Außenmauern standen noch, aus dem Innern stieg noch immer Rauch auf. Leute blieben stehen. Sie schauten stilll hin, sehr still, und gingen weiter. Es war kalt. sehr kalt“ (ebd. S. 12).

Auch an die zerstörten Schaufenster beim Warenhaus Tietz erinnerte sich Friesel, der die Schoa überlebte.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (7): Die ‚Schokoladenfrau‘

Wie Pawlisch gehörte auch der 1927 geborene Werner Teumer zur Jugendopposition in Leipzig.

Die ‚Schokoladenfrau‘

Teumer besuchte eine Schule in der Heinrichstraße, wohl die 12. Volksschule. Und er erinnerte sich im Zusammenhang mit den Novemberpogromen an eine besondere Begebenheit:

„Es gab in der Zeit bestimmte Erlebnisse, an die ich mich immer erinnere und die mich dann, ich will sagen, politisch gefestigt haben. Zum Beispiel: Gegenüber von uns in der Heinrichstraße war eine ‚Schokoladenfrau‘, die hatte so einen kleinen Laden. Mittwochs nach dem Asche abkehren gab die uns was oder für ’nen Fünfer kriegten wir dort Schokoladenbruch. 1938 in der Pogromnacht war ein großes Geschrei in der Heinrichstraße, meine Mutter rief mich. Da haben wir zum Fenster rausgeguckt und sahen, wie die Nazis sie an den Haaren aus dem Laden raus zerrten, drei Stufen runter, schmissen sie aufs Auto und demolierten den Laden“ („Nur der Freiheit gehört unser Leben“, Interview, abgedruckt in: Lange, Sascha: Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus, Leipzig 2012, S. 90-95, hier: S. 90).

Von den Mühen und Fragen des Historikers

Bislang ließ sich noch nicht genau identifizieren, um welches Geschäft es sich gehandelt haben könnte. Je detaillierter die Angaben von Zeitzeugen sind, desto genauer lassen sich diese historischen Ereignissen zuordnen und – soweit möglich mit anderen Quellen überprüfen.

Der Name Teumer lässt sich so zwar im Adressbuch der Stadt Leipzig für die Jahre 1938 und 1939, aber nicht auf der Heinrichstraße nachweisen. Daraus ergeben sich Fragen – und diese können und müssen bei begründetem Zweifel auch soweit gehen, dass die vermeintlich sichere Zuordnung von Erinnerungen zu bestimmten Ereignissen auf den Prüfstand gestellt werden muss.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (6): In den Trubel reingekommen

Zu den Augenzeugen der Leipziger Pogrome gehörte auch der 1920 geborene Johannes Pawlisch.

Bündische Jugend

Als Mitglied der Bündischen Jugend habe er, so Pawlisch in einem Interview 2002, auch Kontakte zu jüdischen Pfadfindern gehabt.

Auf die Frage, ob er sich an die Pogromnacht erinnern könne, antwortete er: „Ja, da war ich noch Lehrling und hatte eine Freundin in der Eutritzscher Straße. Als ich am 9. November gegen Mitternacht von ihr losging, bin ich gerade in den Trubel reingekommen.

Dass was im Gange war, hatte man schon tagsüber gemerkt, auch bei den Kollegen im Betrieb. Da gab es einen Hilfsarbeiter und der war SA-Mann. Der ist im Betrieb benachrichtigt worden, dass er Dienst hat und weg muss, der war bei so einem Kommando mit dabei.

Ich bin in der Wurzener Straße in den Trubel reingekommen, als Geschäfte zerschlagen wurden. Sie hatten SA-Uniformen an und darüber Zivilmäntel und haben feste geklaut. Am nächsten oder übernächsten Tag ist die Frau von einem SA-Mann mit neuer Kleidung auf Arbeit gekommen“ („Hitler will nicht am Kreuz enden“, Interview, abgedruckt in: Lange, Sascha: Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus, Leipzig 2012, S. 45-51, hier: S. 50 f.).

Den Pogromtätern auf der Spur?

Pawlisch erinnerte sich in dem Interview auch, dass sie 1936/37 öfter auf dem jüdischen Sportplatz bei Wiederitzsch in der Nähe des jüdischen Friedhofs gewesen seien. Er nimmt an, dass die Haupttäter, die während der Pogrome die Trauerhalle und Friedhofsgebäude des Neuen jüdischen Friedhofs in Leipzig in Brand gesetzt hätten, wohl aus einer in der Nähe errichteten ‚SA-Siedlung‘ stammten (ebd. S. 50). Nach gegenwärtigem Kenntnisstand waren es wohl Männer des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps, die für die Brandstiftung am 10. November 1938 verantwortlich waren.