Category: Bruchstücke 1938|2018

Victor Klemperers Bemühungen um Emigration (2): Das ‚Büro Heinrich Spiero‘ in Berlin

Victor Klemperer wendete sich bei seinen Bemühungen um Emigration nach den Novemberpogromen nicht nur an Laura Livingston, sondern – vermittelt über den Kontaktmann des ‚Büros Grüber‘ in Dresden, Max von Loeben – auch an Heinrich Spiero in Berlin (siehe auch Klemperers Tagebucheintrag unter dem 17.01.1939).

Büro Heinrich Spiero (1937-1939)

Wie das ‚Büro Laura Livingstone‘ und das ‚Büro Grüber‘ engagierte sich Spiero, der eigentlich Schriftsteller und Literaturhistoriker war, für als ‚Juden‘ verfolgte Christen.

Spiero selbst war trotz seiner Taufe als ‚Volljude‘ verfolgt. Er leitete zeitweilig die Vereinigung nichtarischer Christen (Paulusbund), die 1937 verboten wurde. 1939 wurde das Büro Heinrich Spiero in das Büro Grüber, die offizielle Hilfsstelle der Bekennenden Kirche eingegliedert. Spiero starb 1947 in Berlin.

Klemperers Hilfeersuchen

In einem Brief vom 15. Januar 1939 schrieb Klemperer an Spiero: „In schwieriger Zeit und von jeder Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens abgeschlossen, suche ich in einem beliebigen Land und Erdteil einen Lehrposten, der nur meine Frau und mich bescheiden ernähren soll“ (Brief abgedruckt in: Nowojski, Walter; Holdack, Nele (Hg.): Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen, Berlin 2017, S. 248-250, hier: S. 249).

Klemperer bot auch an, zu einem Gespräch nach Berlin zu kommen. Eine Antwort auf den Brief ist nicht bekannt. Mit seinen Auswanderungsbemühungen scheiterte Klemperer bekanntlich.

Literaturhinweis:

Rohr, Anna: Dr. Heinrich Spiero (1876-1947). Sein Wirken für die Christen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime, Berlin 2015.

Victor Klemperers Bemühungen um Emigration (1): Das ‚Büro Laura Livingstone‘ in Berlin

Nicht nur die Tagebücher Victor Klemperers nach den Pogromen vom November 1938, sondern auch seine Briefe belegen, wie fieberhaft er sich – wenn auch vergebens – um Ausreise bemühte.

Büro Laura Livingston (1937-1939)

Am 11. Dezember 1938 wendete sich Klemperer in Berlin an Laura Livingstone. Sie war die Schwägerin des Bischofs von Chichester, George Bell, der sich in der Frage der Hilfe für als ‚Juden‘ verfolgte Christen um Zusammenarbeit der englischen Kirche mit der evangelischen Kirche und Hilfsstellen wie dem ‚Büro Grüber‘ bemühte.

Livingstone unterhielt in Berlin seit 1937 ein Büro, in dem die englische Kirche Verfolgten zu helfen versuchte. Ab Februar 1939 arbeitete sie mit dem ‚Büro Grüber‘ zusammen (mehr dazu u. a. bei: Röhm, Eberhard; Thierfelder, Jörg: Juden, Christen, Deutsche, 1933-1945, Bd. 2, 2, Stuttgart 1992, S. 254-257).

Klemperers Hilfeersuchen

Klemperer schrieb ihr von seinen Bemühungen um Emigration und die Bereitschaft zur Annahme einer beliebigen Stelle im Ausland. Und er schildert ein Grundproblem, mit dem verfolgte ‚nichtarische‘ Christen vielfach konfrontiert waren:

„Die besondere Schwierigkeit liegt für mich darin, das ich, von jüdischen Eltern stammend, unter die deutsche Judengesetzgebung falle, andrerseits aber, als evangelisch-lutherisch und mit einer evangelischen und arischen Frau verheiratet, die Hilfe oder Vermittlung spezifisch jüdischer Einrichtungen nicht in Anspruch nehmen kann“ (Brief abgedruckt in: Nowojski, Walter; Holdack, Nele (Hg.): Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen, Berlin 2017, S. 233-235, hier: S. 234). In Klemperers Tagebüchern ist der Brief unter anderem im Eintrag vom 15. Dezember 1938 genannt.

Eine Antwort auf Klemperers Schreiben ist nicht bekannt. In seinen Tagebüchern gibt Klemperer aber unter dem 17. Januar 1939 den Hinweis, dass Livingstone es gewesen sei, die Max von Loeben zum Besuch bei Klemperer bewegt habe. Sie stellte also den Kontakt zum Büro Grüber her, dessen Vertrauensmann von Loeben in Dresden war.

Später (Tagebucheintrag vom 28.09.1941) nahm Klemperer noch einmal Bezug auf Livingstone: Im pessimistischen Rückblick angesichts der gescheiterten Emigrationsbemühungen merkte er an, dass er mit Livingstone die schlechtesten Erfahrungen gemacht habe.

Literaturhinweis zum Büro Laura Livingstone

Rohr, Anna: Dr. Heinrich Spiero (1876-1947). Sein Wirken für die Christen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime, Berlin 2015, S. 248-257.

Chemnitz – Berichte von Augenzeugen (1): Stämmige SS-Männer

In Chemnitz unterhielten die Eltern von Evyatar Friesel ein Konfektionsgeschäft in der Langen Straße 29. Die Familienmitglieder wurden als ‚Juden‘ verfolgt. Und sie waren ebenfalls von der Pogromgewalt betroffen. Es sei dies der Zeitpunkt gewesen, so Friesel in seinen Lebenserinnerungen, dass sie erkannt hätten, dass es höchste Zeit für die Emigration sei (Friesel, Evyatar: Ballade des äußeren Lebens. Memoiren, Leipzig 1997, S. 11 f.).

„‚Kristallnacht‘ – ich erinnere mich genau“

An die Pogrome erinnerte sich Friesel wie folgt: „Das Geschäft meiner Eltern lag nicht im Erdgeschoß, sondern eine Treppe hoch, direkt neben unseren Wohnräumen. Als ich am Morgen erwachte, sah ich, daß die großen Ladenfenster mit Pflastersteinen eingeworfen worden waren. Zwei stämmige SS-Männer waren die Treppe heraufgekommen und redeten mit lauter Stimme auf meine verschüchterten Eltern ein. Später ging ich hinaus. Es war ein kalter Morgen. Hie und da sah ich zerschlagene Schaufenster von Geschäften, bei denen ich gar nicht gewußt hatte, daß die Besitzer Juden waren. Ich kam zur Hauptsynagoge, einem schönen und stattlichen Gebäude. Nur seine Außenmauern standen noch, aus dem Innern stieg noch immer Rauch auf. Leute blieben stehen. Sie schauten stilll hin, sehr still, und gingen weiter. Es war kalt. sehr kalt“ (ebd. S. 12).

Auch an die zerstörten Schaufenster beim Warenhaus Tietz erinnerte sich Friesel, der die Schoa überlebte.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (7): Die ‚Schokoladenfrau‘

Wie Pawlisch gehörte auch der 1927 geborene Werner Teumer zur Jugendopposition in Leipzig.

Die ‚Schokoladenfrau‘

Teumer besuchte eine Schule in der Heinrichstraße, wohl die 12. Volksschule. Und er erinnerte sich im Zusammenhang mit den Novemberpogromen an eine besondere Begebenheit:

„Es gab in der Zeit bestimmte Erlebnisse, an die ich mich immer erinnere und die mich dann, ich will sagen, politisch gefestigt haben. Zum Beispiel: Gegenüber von uns in der Heinrichstraße war eine ‚Schokoladenfrau‘, die hatte so einen kleinen Laden. Mittwochs nach dem Asche abkehren gab die uns was oder für ’nen Fünfer kriegten wir dort Schokoladenbruch. 1938 in der Pogromnacht war ein großes Geschrei in der Heinrichstraße, meine Mutter rief mich. Da haben wir zum Fenster rausgeguckt und sahen, wie die Nazis sie an den Haaren aus dem Laden raus zerrten, drei Stufen runter, schmissen sie aufs Auto und demolierten den Laden“ („Nur der Freiheit gehört unser Leben“, Interview, abgedruckt in: Lange, Sascha: Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus, Leipzig 2012, S. 90-95, hier: S. 90).

Von den Mühen und Fragen des Historikers

Bislang ließ sich noch nicht genau identifizieren, um welches Geschäft es sich gehandelt haben könnte. Je detaillierter die Angaben von Zeitzeugen sind, desto genauer lassen sich diese historischen Ereignissen zuordnen und – soweit möglich mit anderen Quellen überprüfen.

Der Name Teumer lässt sich so zwar im Adressbuch der Stadt Leipzig für die Jahre 1938 und 1939, aber nicht auf der Heinrichstraße nachweisen. Daraus ergeben sich Fragen – und diese können und müssen bei begründetem Zweifel auch soweit gehen, dass die vermeintlich sichere Zuordnung von Erinnerungen zu bestimmten Ereignissen auf den Prüfstand gestellt werden muss.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (6): In den Trubel reingekommen

Zu den Augenzeugen der Leipziger Pogrome gehörte auch der 1920 geborene Johannes Pawlisch.

Bündische Jugend

Als Mitglied der Bündischen Jugend habe er, so Pawlisch in einem Interview 2002, auch Kontakte zu jüdischen Pfadfindern gehabt.

Auf die Frage, ob er sich an die Pogromnacht erinnern könne, antwortete er: „Ja, da war ich noch Lehrling und hatte eine Freundin in der Eutritzscher Straße. Als ich am 9. November gegen Mitternacht von ihr losging, bin ich gerade in den Trubel reingekommen.

Dass was im Gange war, hatte man schon tagsüber gemerkt, auch bei den Kollegen im Betrieb. Da gab es einen Hilfsarbeiter und der war SA-Mann. Der ist im Betrieb benachrichtigt worden, dass er Dienst hat und weg muss, der war bei so einem Kommando mit dabei.

Ich bin in der Wurzener Straße in den Trubel reingekommen, als Geschäfte zerschlagen wurden. Sie hatten SA-Uniformen an und darüber Zivilmäntel und haben feste geklaut. Am nächsten oder übernächsten Tag ist die Frau von einem SA-Mann mit neuer Kleidung auf Arbeit gekommen“ („Hitler will nicht am Kreuz enden“, Interview, abgedruckt in: Lange, Sascha: Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus, Leipzig 2012, S. 45-51, hier: S. 50 f.).

Den Pogromtätern auf der Spur?

Pawlisch erinnerte sich in dem Interview auch, dass sie 1936/37 öfter auf dem jüdischen Sportplatz bei Wiederitzsch in der Nähe des jüdischen Friedhofs gewesen seien. Er nimmt an, dass die Haupttäter, die während der Pogrome die Trauerhalle und Friedhofsgebäude des Neuen jüdischen Friedhofs in Leipzig in Brand gesetzt hätten, wohl aus einer in der Nähe errichteten ‚SA-Siedlung‘ stammten (ebd. S. 50). Nach gegenwärtigem Kenntnisstand waren es wohl Männer des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps, die für die Brandstiftung am 10. November 1938 verantwortlich waren.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (5): Die Wohnung zertrümmert

Im Jahr 1995 erschienen die Erinnerungen von Schlomo Samson im Druck, in denen der 1923 in Leipzig geborene Verfasser die Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, den Besuch von zwei Schulfarmen in Holland (1939-1942), die Zeit in den Lagern Westerbork und Bergen-Belsen sowie die illegale Einwanderung nach Palästina nach der Befreiung beschreibt (Samson, Schlomo: Zwischen Finsternis und Licht. 50 Jahre nach Bergen-Belsen, Jerusalem 1995).

Die Wohnung zertrümmert

Auch Samsons Erlebnisse während der Novemberpogrome von 1938 fanden in den Band Eingang. Die Familie lebte in Leipzig in der Gottschedstraße 28. Das Adressbuch verzeichnet dort den Handelsvertreter Josef Samson, Schlomos Vater. Am Vormittag des 10. November 1938 – Samson war mit seinem kleinen Bruder, der Mutter und der Großmutter allein zuhause – sei die Wohnung überfallen worden:

„Die ‚Vom-Rath-Rächer‘ waren mit Eisenstangen ausgerüstet, um alles was in ihren Weg kam zu zertrümmern. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß keine Männer im Haus waren, begnügten sie sich damit, alles Porzellan, Glas und die Fensterscheiben in Stücke zu schlagen und ein paar Möbelstücke zu zerhacken. Dann zogen sie weiter und suchten vornehmere Wohnungen, die ihnen sicher mehr Genugtuung verschafften.

Im Stadtzentrum wurden alle Schaufenster der vielen jüdischen Geschäfte zerschmettert, aber vor allem die Synagogen verbrannt und das Gebäude der jüdischen Schule“ (ebd., S. 53).

Angst und Unsicherheit

Aus Sicherheitsgründen hätte die Familie daraufhin für ein paar Nächte außerhalb bei Freunden des Vaters geschlafen. Diese seien Staatsbürger Argentiniens und Uruguays gewesen. Ihre Türen hätten sie mit ausländischen Wappen und Fahnen versehen, was wohl stärkeren Eindruck auf die Marodeure als die Namen Korngold und Auswachs machen sollte.

Das Ende der Moral

Samson nahm in den Folgentagen auch die zerstörten Einrichtungen der jüdischen Gemeinde in der Messestadt ins Auge – darunter die von der Familie besuchte Ez-Chaim-Synagoge.

Angesichts der Gewalt und Zerstörung nahm er im Rückblick auch eine Bewertung der deutschen Situation vom Herbst 1938 vor: „Moralisch waren das schwere Tage. Eine Ideenwelt, von der wir glaubten, daß sie in der ganzen modernen Welt anerkannt war, brach über Nacht zusammen. Wir hatten das Gefühl, ins Mittelalter zurückversetzt zu sein“ (ebd. S. 54).

Die Familie, so verzeichnet es das Leipziger Adressbuch von 1939, lebte dann in der Lortzingstraße 14. Am 28. November 1938 verließ Schlomo Samson das Deutsche Reich und ging nach Amsterdam. Nach seiner Odyssee durch die Lager gelangte er nach Kriegsende nach Palästina.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (3): An der Parthe

Es gibt mehrere Berichte, die beschreiben, wie als ‚Juden‘ verfolgte Menschen in Leipzig ins Flussbett der Parthe getrieben und misshandelt wurden.

Ein Mädchen und die Gewalt

Die 1930 in Leipzig geborene Gisela Eider erinnerte sich an Erlebnisse des 10. November 1938 in der Messestadt. Sie sah zerstörte Geschäfte und sah auch eine Synagoge brennen. Und sie erinnert sich an Begebenheiten am kleinen Flüsschen Parthe, der durch den Leipziger Zoo fließt:

„Da habe ich gesehen, wie Menschen oder Polizisten zwei fromme Juden geschoben haben. Sie waren religiös gekleidet mit Schläfenlocken und Bart. Sie haben sie fast runtergeschmissen. Dort hat man sie versammelt und das war auch schrecklich zu sehen. Da hatte einer einen abgeschnittenen Bart und hatte Blut. Es hat mich sehr mitgenommen. […] Ich habe dann Angst bekommen und bis nach Hause. Meine Eltern haben mich nicht mehr rausgelassen an dem Tag“ (Interview mit Elke Urban, abgedruckt in Urban, Elke (Red ).: Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen, Leipzig 2011, hier S. 88).

Gisela Eider, die selbst zu den Verfolgten gehörte, gelang später die Emigration nach Palästina.

Gedenkstein an der Parthe

Am Partheufer in der Nähe des Zoologischen Gartens erinnert heute ein Gedenkstein an die dort verübte Pogromgewalt. Die Inschrift des Stein lautet:

„Hier in diesem Graben wurden im Jahre 1938 jüdische Bürger vor ihrer Deportation zusammen getrieben.“

‚Deportiert‘ wurden die während der Pogrome Verfolgten indes nicht. Allerdings wurden zahlreiche Männer in Konzentrationslager überstellt.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (2): Pogromgewalt und Hilfe durch Nachbarn

Die Pogromgewalt erlebte in Leipzig auch der 1932 geborene Siegfried Szapira (später dann Wahrmann). Sein Vater Josef Szapira unterhielt ein Stahlwarengeschäft in der Nordstraße 28, wohin die Familie erst 1938 umgezogen war.

Schreiende Menschen

Vom Fenster eines Zimmers seiner Tante habe er auf der Straße Menschen schreien gehört: „‚Wir werden einbrechen! Einbrechen!‘ Da hat sie uns alle zusammengenommen, die Kinder, meine Eltern, und wir sind dann in den Hinterhof. Wir haben gehört, wie die Steine in die Fenster geflogen sind. Alles war zerschmettert. Menschen haben gerafft, Kinder wurden weggenommen, Sachen wurden gestohlen. Nachher hat meine Mutter das Fenster zum Hinterhof aufgemacht und hat geschrien: ‚Hilfe, Hilfe, Hilfe!‘ Mein Vater hat das Telefon genommen und die Polizei gerufen. Die Polizei hat ihm geantwortet: ‚Wir können nicht an jedes jüdische Geschäft einen Wärter stellen.‘ Das war die Antwort. Die Synagoge wurde in derselben Zeit zerstört.“

Hilfe durch Nachbarn

Auch die Familie Szapira durfte erleben, dass sich Nachbarn der Verfolgten annahmen. Siegfried Wahrmann erinnerte sich daran wie folgt:

„Wir hatten einen Hauswirt im zweiten Stock. Ich glaube, er war ein Advokat oder irgendwas Ähnliches. Er war Mitglied der Nazipartei, aber er war in Wirklichkeit kein Nazi im Herzen. Er musste da hingehen, denn das brauchte er für seinen Beruf. Er hat mich und meine Schwester mit rauf in seine Wohnung genommen und versteckte uns im Badezimmer. Meine Eltern wollte er nicht mitnehmen, das waren ihm zu viele Menschen. Deshalb sind sie zu einer anderen Nachbarin unter uns gegangen, in den Keller zu Frau Tetzner. […] Sie hat meine Eltern zu sich genommen, meinen Bruder auch. Sie bekamen Frühstück runtergeschickt mit Brötchen und Eiern. Und ich war mit meiner Schwester oben und wir haben gesehen, was auf der Nordstraße passiert ist. Hunderte Juden wurden zusammengetrieben, die Treppe hinunter zur Parthe. Man hat geschlagen, es wurde geschrien … Unnormal!“ (Interview mit Elke Urban, abgedruckt in Urban, Elke (Red ).: Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen, Leipzig 2011, hier S. 25 f.).

Emigration

Josef Szapira versteckte sich nach den Pogromereignissen zunächst, um nicht ins Konzentrationslager überstellt zu werden. Im April 1939 emigrierte die Familie nach Amerika (ebd. S. 26).

Radio Strasbourg – ein „jüdischer Hetzsender“?

Der 1921 geborene Henning Böhme erlebte als Schüler nicht nur die Pogromereignisse in Leipzig, sondern er gibt noch einen weiteren Hinweis auf die Reichweite und Auswirkungen der deutschlandweiten Gewaltexzesse.

Radio Strasbourg – der „jüdische Hetzsender“?

Zusammen mit seinem Bruder habe er am Abend des 10. November 1938 heimlich ‚Volksempfänger‘ gehört. Eingestellt hätten sie Radio Strasbourg, wo es eine Meldung zum größten Judenpogrom – bezogen auf die Ereignisse im Deutschen Reich – gegeben habe.

Es sei dann der Vater gewesen, der das Hören des „jüdischen Hetzsender[s]“ unterbrochen habe (nachzulesen bei: Böhme, Henning: „… wie bei einem Wettbewerb: Wer hat die größten Verwüstungen gesehen?“, in: Hardegen, Friedrich Detlev (Hg.): Hingesehen – Weggeschaut. Die Novemberpogrome 1938 in Augenzeugenberichten, Berlin 2008, S. 108–110, hier: S. 109 f.).

Radio Strasbourg – Rundfunk gegen die nationalsozialistische Propaganda

Es lohnt sich, dem Hinweis auf das Medium des Radios im Kontext der Novemberpogrome nachzugehen. Der seit November 1930 bestehende Sender Radio Strasbourg, dessen Redaktion ihren Sitz in Strasbourg hatte, richtete seine deutschsprachigen Sendungen vor allem nach Elsass-Lothringen.

Ab 1936 existierte in Paris eine, unter dem gleichen Label („Ici Strasbourg“) firmierende Emigrantenredaktion, deren Sendungen sich vor allem an Zuhörer im Deutschen Reich richteten. Sie unterstand der Kontrolle des französischen Außenministeriums, war mithin eine direkte Einrichtung der Auslandsrundfunkpropaganda.

Was Böhme und sein Bruder hörten, war also vermutlich eine Sendung der Pariser Emigrantenredaktion. Diese Spur ließe sich weiter verfolgen, denn vielleicht gibt es in den Archiven noch eine überlieferte Sendungsmitschrift oder einen -mitschnitt.

Ein Radiobericht zum Brand einer Synagoge in Wien

Eine Reportage des Reporters Eldon Walli über die Zerstörung des Tempels in Wien-Leopoldstadt kann man sich über die Österreichische Mediathek anhören. Er ist von der antisemitischen Propaganda des nationalsozialistischen Regimes durchzogen: Man habe etwa, so Walli, nichts dagegen, dass die Ruine des ‚Judentempels‘ einstürze, und sei empört, dass sich die Juden aus dem Staub gemacht hätten.

Leipzig – Berichte von Augenzeugen (1): Ein Schüler erlebt die Pogromgewalt

Henning Böhme, Jahrgang 1921, schrieb Anfang der 1980er-Jahre in seinen Erinnerungen auch über die von ihm erlebten Pogromereignisse in Leipzig.

Ein Schüler erlebt die Pogrome in Leipzig

Böhme erinnerte sich, von den Pogromen erst am Morgen des 10. November 1938 in der Nikolaischule erfahren zu haben, da sich an seinem Schulweg keine Synagogen oder ‚jüdischen‘ Geschäfte befunden hätten. Viele Unterprimaner erzählten von dem noch rauchenden Kaufhaus Bamberger und Hertz, das am Augustusplatz von den Nationalsozialisten in Brand gesteckt worden war. In den Pausen sei dann nur noch von Brandruinen und Verwüstungen die Rede gewesen. So erfuhr Böhme unter anderem von Brand der Synagoge an der Gottschedstraße und der Zusammentreibung von als ‚Juden‘ Verfolgten im Flussbett der Parthe.

Neugier und Pogrom

Nach Unterrichtsende habe er dann einen Umweg über den Augustusplatz gemacht und die Ruine von Bamberger und Hertz selbst gesehen, ebenso am Johannisplatz eingeschlagene Schaufenster. Auf Holzbretter seien Zettel mit der Aufschrift „Kauft nicht bei Juden!“ geklebt und die Geschäfte zur Verhinderung von Plünderungen von der SA bewacht gewesen.

Angesichts all dessen durchfuhr Böhme im Rückblick ein Gedanke: „Für Sekunden geht es mir durch den Kopf: wenn du nun Jude gewesen wärst“ (S. 109).

Nachzulesen bei: Böhme, Henning: „… wie bei einem Wettbewerb: Wer hat die größten Verwüstungen gesehen?“, in: Hardegen, Friedrich Detlev (Hg.): Hingesehen – Weggeschaut. Die Novemberpogrome 1938 in Augenzeugenberichten, Berlin 2008, S. 108–110.

Originalquelle: Böhme, Henning: Ich bin schon viele Male gestorben. Autobiographische Reflexionen zur Zeitgeschichte, Typoskript 1984, Deutsches Tagebucharchiv e. V., Emmendingen, Signatur 681, 1.