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Gedenkjahr 2018 (8): Eine Demonstration in Leipzig

Um eine neue Form des Erinnerns ging es am Abend des 8. November 2018 in Leipzig: Eine Gedenkdemonstration des Initiativkreises 9. November zog mit bis zu 2.000 Teilnehmern durch die Innenstadt zu Orten der Pogrome von 1938.

An den Orten des Pogroms

Die TeilnehmerInnen erlebten an Orten der Pogromgewalt, wie der ehemaligen Höheren Israelitischen Schule (Carlebachschule), dem Parthenufer, der Keilstraßensynagoge, dem Brühl und schließlich dem ehemaligen Standort der zerstörten Synagoge in der Gottschedstraße Installationen mit Bild und Licht sowie Einspielungen von Erinnerungen und Texten.

Das Besondere des Abends war, dass das Erinnern auf diese Weise nicht allein an einem Ort, sondern im gesamten Zentrum der Stadt präsent war.

Neu aufgefundener Augenzeugenbericht aus Dresden: Ein Bruchstück

Im Zuge neuer Recherchen ist mir ein Beitrag des Altphilologen Johannes Irmscher (1920-2000) bekannt geworden. Darin schrieb Irmscher 1990 zur Geschichte der Dresdner Synagoge. Im letzten Teil des Aufsatzes ging er dabei auch auf die Dresdner Pogromereignisse ein:

„Als Primaner [an der Kreuzschule – Anm. DR] wurde ich in Dresden Zeuge der Kristallnacht und der Brandstiftung der Synagoge. Unser Religionslehrer Dr. FRITZ KÖLTZSCH nahm mich an diesem Tag beiseite und sagte zu mir: ‚Ich nehme an, Sie mißbilligen ebenso wie ich das, was hier geschieht.‘ Diese offenen Worte des Lehrers zu seinem Schüler waren angesichts des hemmungslosen Wütens der fanatisierten faschistischen Mordbrenner eine antifaschistische Tat, die gefährliche Folgen hätte nach sich ziehen können“ (Irmscher, Johannes: Die Dresdner Synagoge, in: Wissenschaftliche Zeitschrift (Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe) 39 (1990), 1, S. 99-101, hier S. 101).

Zur Biografie Irmschers

Interessant sind Irmschers Aussagen vor dem Hintergrund, dass er selbst 1938 der NSDAP beitrat – noch als Schüler; sein Abitur legte er erst im Folgejahr ab. In der DDR arbeitete Irmscher als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit zu.

Fritz Költzsch

Neu ist auch der Hinweis auf die Positionierung des Studienrats und Lehrers Fritz (Friedrich) Költzsch: Dieser hatte 1928 zur Geschichte Kursachsens und der Juden in der Ära Brühl promoviert (Költzsch, Fritz: Kursachsen und die Juden in der Zeit Brühls, Engelsdorf-Leipzig 1928).

Eine Ausstellung wandert: Freiberg

Morgen, am 80. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938, wird der schwerpunktmäßig auf den Chemnitzer und südwestsächsischen Raum konzentrierte Teil der Ausstellung BRUCH|STÜCKE im mittelsächsischen Freiberg eröffnet. Die öffentliche Vernissage beginnt um 14 Uhr im Beruflichen Zentrum für Technik und Wirtschaft „Julius Weisbach“ (Schachtweg 2, 09599 Freiberg). Die Ausstellung ist dann ab dem 12. November bis voraussichtlich zum 7. Dezember 2018 an den Schultagen jeweils von 8:00 bis 14:00 Uhr zu sehen.

Die Wanderung der Ausstellung hat damit also begonnen – und sie wird nun zugleich an einem Ort gezeigt, an dem sich 1945 ein KZ-Außenlager befand.

Die Freiberger Pogromereignisse

Auch in Freiberg kam es am 10./11. November 1938 zu Pogromereignissen, von denen bereits an anderer Stelle die Rede war. Es sind vor allem die Arbeiten des Freiberger Forschers Michael Düsing, die das Geschehen dieser Tage und die Schicksale der als Juden verfolgten Freiberger greifbar machen. Mit einer zusätzlichen Ausstellungstafel zu den Freiberger Pogromereignissen erhalten die Besucher einen besonderen Einblick in das Geschehen vor Ort.

Neue Tafeln

Es ist Ziel der Ausstellung, in Zukunft nicht nur zu wandern, sondern auch zu wachsen: Auf der Grundlage eines Vorlage zur Erstellung neuer Ausstellungstafeln sollen Lokalforscher, Vereine, Kirchgemeinden und insbesondere auch Akteure aus dem Bildungsbereich (Lehrer, Schüler, Studenten u. a. m.) die Möglichkeit erhalten, die Ausstellung zu erweitern.

Gedenkjahr 2018 (7): Ein Artikel zu Großröhrsdorf

Bereits an früherer Stelle habe ich auf das Schicksal der Familie Schönwald in Großröhrsdorf hingewiesen. Diese wurde in der Nacht zum 10. November 1938 Opfer der Pogrome, durch die Stadt getrieben und in ‚Schutzhaft‘ gesetzt.

Zum 80. Jahrestag der Ereignisse hat nun Norbert Littig, der beste Kenner der Geschichte der Familie, seine Erkenntnisse zu den Großröhrsdorfer Ereignissen in einem längeren Beitrag zusammengeführt (Littig, Norbert: 9. November 2018 – 80 Jahre Reichspogromnacht. „Die Bewohnerschaft verurteilte dieses Vorgehen auf das Schärfste.“, in: Rödertal-Anzeiger 12, 43 (26.10.2018), S. 1-3).

Kritik der Bevölkerung

Littig stellt darin auch die Bedeutung der Schönwalds für den Ort da, an dem die Einwohner selbst noch einkauften, als mit dem neuen Bürgermeister und SA-Obersturmbannführer Herbert Rosig ein deutlich schärferer antisemitischer Kurs gegen die Familien gefahren wurde. Selbst Nationalsozialisten schickten noch immer ihre Frauen in das Kaufhaus.

Vom Pogrom nicht verschont

Vom der Pogromgewalt blieb das Kaufhaus, dass im November 1938 seine Maximalbesetzung an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erreichte, nicht verschont: Die Scheiben wurden eingeschlagen, das Gebäude beschmiert und die Inhaber durch den Ort getrieben.

Der 1936 abgesetzte Bürgermeister Max Rentzsch notierte dazu in einer 1946 verfassten privaten Chronik: „Die Bewohnerschaft verurteilte dieses Vorgehen auf das Schärfste.“

Gedenkjahr 2018 (6): Radebeul

Auch in vielen kleinen Orten wird anlässlich des 80. Jahrstages der Pogrome am 9. November 2018 an die Ereignisse und überhaupt an die Schicksale von als Juden verfolgten Menschen, die vor Ort lebten oder zur Zwangsarbeit gezwungen waren, erinnert.

Erinnerungskultur in Radebeul

Auch in Radebeul wird an den Jahrestagen der Novemberpogrome an die Schicksale von als Juden verfolgten Einwohnern erinnert. In diesem Jahr steht das Schicksal der Familie Freund im Mittelpunkt, für die in der Moritzburger Straße 1 wohnten und in der Schoa umkamen. An sie erinnern heute Stolpersteine. Schüler der Oberschule Kötzschenbroda gestalten um 14 Uhr eine Gedenkminute und das symbolische Putzen der Steine.

Vom Pogrom betroffen

Tatsächlich betroffen war von den Pogromereignissen in Radebeul Wilhelm Schaye, der am 13.11.1938 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert wurde. Der 1891 geborene Schaye, der im Radebeuler Adressbuch von 1938 als Handelsvertreter genannt wird (Augustusweg 1), wurde am 1. Dezember 1938 wieder aus dem Lager entlassen – er selbst deutete dies so, dass sein Fronteinsatz und sein Ehrenkreuz für die Teilnahme am Ersten Weltkrieg hierfür ausschlaggebend gewesen seien (vgl. Lewek, Ingrid; Tarnowski, Wolfgang: Juden in Radebeul 1933 – 1945, erw. u. überarb. Ausg., Radebeul 2008, S. 32).

Schaye überlebte die Zeit der Verfolgung. Er starb 1974 in Dresden. Seine Mutter Ida kam im Konzentrationslager Theresienstadt 1942 ums Leben.

Update 23.01.2023:

Tatsächlich haben neue Recherchen gezeigt, dass Schaye nicht in Dresden, sondern in Radebeul verstorben ist.

Fernsehbeiträge anlässlich des Jahrestags der Novemberpogrome in Sachsen 1938|2018

In vier Tagen jähren sich die Ereignisse der Novemberpogrome in Sachsen von 1938. Auch im MDR-Fernsehen werden an diesen Tagen einige Beiträge zu sehen sein, die aus verschiedener Perspektive auf die Gewaltereignisse vor achtzig Jahren zurückblicken. An drei dieser Sendungen hatte ich die Möglichkeit mitzuwirken.

MDR Wissen (06.11.2018, 14:00 Uhr)

Bereits morgen, im MDR-Fernsehen in der Sendung „Dabei ab Zwei“ (so jedenfalls geplant) wird ein kleiner Beitrag zu sehen sein, bei dem es unter anderem um den Forschungsstand zu den Pogromen geht. Ich hatte dabei auch der Vergnügen, mit Zeitzeugen zu sprechen, denen ich für ihre Offenheit und Geschichten auf diesem Weg noch einmal danke.

Den Beitrag kann man bereits jetzt online in der Mediathek abrufen unter: https://www.mdr.de/wissen/video-246356_zc-b1d0fd3e_zs-64b8d9c9.html

MDR-Dokumentation „Wir waren doch Nachbarn“ (06.11.2018, 22:05 Uhr)

Ebenfalls morgen läuft abends im MDR eine große, halbstündige Dokumentation zu den Novemberpogromen in Mitteldeutschland, bei der Zeitzeugen, Forscher und Akteure der Erinnerungsarbeit zur Wort kommen. Ich selbst habe den fertigen Film noch nicht gesehen und bin nun gespannt, was uns morgen erwartet.

MDR Sachsenspiegel (09.11. 2018, 19:00 Uhr)

Schließlich wird am Freitag, dem 9. November 2018, im Sachsenspiegel ein kleiner Beitrag an die Pogrome in Sachsen erinnern, für den ich mit einem Filmteam des MDR nach Wilthen und Großröhrsdorf, mithin in die kleinen Pogromorte fahren durfte. In Großröhrsdorf hat uns Pfarrer Norbert Littig unterstützt, der die lokalen Pogromereignisse sehr umfassend recherchiert hat.

Dresdner Rabbiner schwer misshandelt: Albert Wolf

Zu den als Juden verfolgten Männern, die ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt wurden, gehörte auch der Rabbiner Dr. Albert Wolf (1890-1951) aus Dresden. Wolf amtierte seit 1920 als Rabbiner. Am 10. November 1938 wurde er zusammen mit anderen Dresdner Juden festgenommen und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.

Bericht eines Augenzeugen

Wolf, der im Ersten Weltkrieg Kriegsdienst tat und als Hilfsrabbiner beim deutschen Heer wirkte, sah sich schweren Misshandlungen ausgesetzt. Ein Augenzeuge berichtete, „daß er den Rabbiner Dr. Wolf nicht wiedererkannt habe, da sein Gesicht blutig und geschwollen war“ (zit. in: Diamant, Adolf: Chronik der Juden in Chemnitz, heute Karl-Marx-Stadt. Aufstieg und Untergang einer jüdischen Gemeinde in Sachsen, Frankfurt am Main 1970, S. 105).

Erst 1939 wurde Wolf aus dem Lager Buchenwald entlassen. Er kam noch einmal für wenige Tage nach Dresden und emigrierte im Februar 1939 nach England. Später wirkte er in Chicago als Rabbiner (vgl. Hahn, Hugo: Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933-1945, Metzingen 1969, S. 249).

Ein Brief von Nanda Krantz aus Dresden

Im Stadtarchiv Dresden (16.1.3 Nachlass Krantz, Nr. 379) finden sich Briefe von Nanda Krantz an den Sohn Helmut. Ferdinanda Krantz (1890-1943) war Hochschullehrerin am Conservatorium für Musik und Theater zu Dresden, das ihr Ehemann Curt Krantz leitete.

Verwandtschaft mit Reinhard Heydrich

Curt Krantz‘ Schwester Elisabeth war mit dem Opernsänger und Komponisten Bruno Heydrich verheiratet, aus deren Ehe Reinhard Heydrich entstammte, der Chef der Sicherheitspolizei und Hauptakteur während der Novemberpogrome. Sein Bruder Johannes Krantz (1870-1932) war dagegen mit der Jüdin Barbara (Boriska) Lobstein verheiratet, die im Konzentrationslager Auschwitz umkam.

Ein Brief an den Sohn

Am 13. November 1938 schrieb Nanda Krantz einen Brief an ihren Sohn Helmut (1917-1942), der ab 1936 als Soldat der neuen Wehrmacht diente und 1938 in Göttingen Mathematik studierte.

Darin hieß es mit Bezug auf die Pogromereignisse in Dresden:

„Bei uns hat auch das empörte Volk die Synagoge in Brand gesetzt und alle Geschäfte demoliert, die kleinsten wie die grössten. Die neue Verordnung macht ja nun endgültig Garaus mit den Juden in der ganzen Wirtschaft.“

Der Tenor des Briefes lässt sich keineswegs einfach deuten, scheint jedoch den Ausschluss der als Juden verfolgten aus dem deutschen Wirtschaftsleben zu befürworten. Curt Krantz jedenfalls pflegte ganz offensichtlich enge Kontakte zu Mitgliedern des Dresdner Verfolgungsapparates: In einem Brief an seine Ehefrau Nanda schrieb er im August 1939: „Gestern besuchte mich in meinem Dienstzimmer ein Kamerad, welcher die Aufsicht über die Dresdener jüdische Gemeinde hat. Er bat mich nächste Woch. einen Stoß Akten über die Juden und auch Freimann [?] durchzusehen. Bei unserer früheren Bekanntschaft mit Juden, glaube ich werden die Akten viel Interessantes enthalten.“

Ein Brief von Therese Wassermann in Dresden (3)

Der Brief Therese Wassermanns zog unter anderem eine Hausdurchsuchung und weitere Vernehmungen nach sich. Vernommen wurde auch im Februar 1939 durch die Gestapo-Außenstelle in Bautzen auch die 47-jährige Hedwig Richter, die bei Familie Wassermann in Bautzen gearbeitet hatte und die bei einem Besuch von den Bautzener Pogromereignissen berichtet hatte.

Bericht aus Bautzen

Richter erinnerte sich bei ihrer Vernehmung, was sie Therese Wassermann erzählt hatte:

„Dabei habe ich ihr erzählt, daß sie froh sein könne, daß sie zu dieser Zeit nicht mehr in Bautzen war, denn ich hätte gesehen, daß verschiedene Bautzner Juden, darunter auch Frau Hamburger, durch die Reichenstraße geführt worden seien. Es ist auch möglich, daß ich ihr gegenüber davon gesprochen habe, daß bei Bockelmann*, Bautzen, die Schaufensterscheibe eingeschlagen worden war. Ob ich ihr dies erzählt habe, weiß ich aber nicht mehr genau. Von diesen Vorkommnissen in Bautzen war Frau Wassermann aber bereits unterrichtet. […] Weiteres über die Vorkommnisse gegen die Juden in Bautzen habe ich Frau Wassermann nicht erzählt. Ich habe nur das erzählt, was ich zufällig gesehen hatte.“

* Wohl Firma Bokelmann Nachf.

Ein Brief von Therese Wassermann in Dresden (2)

Der Brief von Therese Wassermann an ihren Sohn Willy schilderte allerdings nicht nur die Bautzener Pogromereignisse: Vielmehr schildert er auch die weitere Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes gegen die Familie.

Emigrieren oder Bleiben?

Ihrem Sohn Willy gegenüber klagte Wassermann nach den Pogromen ganz offen: „[E]ine Ahnung vom Kommenden hätte ich haben müßen, dann wäre ich im vorigen Jahr gar nicht mehr hier her gefahren, aber wer konnte das ahnen.“ Damals hatte sie sich 14 Tage zu Besuch bei Willy und dessen Frau Alice in Amsterdam aufgehalten – sich aber gegen die Emigration entschieden. Bei ihrer Vernehmung gab sie ebenfalls an, ihre Ausreise nicht zu planen.

Pogromereignisse in Bischofswerda?

Interessant ist noch eine weitere Information: Wassermann, die in Dresden auf Vermittlung der Jüdischen Gemeinde bei der Familie Brieger untergekommen war, erlebte in Dresden auch den Besuch eines aus dem Konzentrationslager entlassenen Verfolgten: „Der Jude Michel aus Bischofswerda, der mich bei Briegers besuchte, erzählte mir, daß aus gesundheitlichen Gründen in Buchenwald das Haar der Insassen kurz geschoren wurde. Er war selbst von dort gekommen. Meine Worte mit der Entledigung der Bärte hat er wahrscheinlich auch mit erzählt.“ Es ist dies ein erster Hinweis darauf, dass möglicherweise auch als Juden verfolgte Menschen aus Bischofswerda im November 1938 verhaftet wurden (zumindest für 1924 lässt eine erste Adressbuchrechereche den Namen Hermann Michel nachweisen).