Leipzig – Berichte von Augenzeugen (8): Die Flucht ins polnische Konsulat

Gerade für Leipzig, wie vor 1933 etwa die Hälfte der in Sachsen gezählten Juden (nach Glaubensbekenntnis) lebte, gibt es eine Vielzahl an Berichten von Augenzeugen und vor allem auch der Verfolgten selbst.

Von der ‚Polenaktion‘ betroffen

Zu den Verfolgten gehörte auch die Familie von Helga Ehlert, die 1923 in der Messestadt geboren wurde. Die Familie war bereits von der ‚Polenaktion‘ betroffen: Zwar konnte der Vater nach einer Warnung nach Rosenthal fliehen, während sie mit ihrer Mutter und dem Bruder ins polnische Konsulat geflüchtet sei. Die Onkel Wladek und Ignatz seien jedoch nach Polen abgeschoben worden.

Ein Warnanruf

Auch während der Pogrome in Leipzig erhielt die Familie eine telefonische Warnung. Ehlert erinnert sich:

„Neun oder zehn Tage nach der Polenaktion wurden wir wieder anonym angerufen, und man sagte uns, daß die Synagogen brennen und daß Läden und jüdische Geschäfte zerschlagen und geplündert werden, daß Leute aus ihren Betten gerissen und abtransportiert würden: ‚Rettet Euch!‘ Das war die Pogromnacht.

Daraufhin hat mein Vater seine Sekretärin, Frau Elfriede Beinemann, die heute noch lebt, angerufen. Ihr Mann, ein Elektromeister, hatte ein Auto. Er ist um sechs Uhr früh mit seinem Auto gekommen und hat meinen Vater, meine Mutter und uns Kinder abgeholt, um uns wiederum ins polnische Konsulat zu fahren. Wir fuhren durch Gohlis, ein gutbürgerliches Viertel. Alles war ruhig, man hat nichts gemerkt von Judenverhaftungen oder kaputtgeschlagenen Geschäften, gar nichts. Und dann kamen wir mit dem Auto ins Stadtzentrum, und ich erinnere mich, daß mein Vater, obwohl es noch dunkel war, meinem Bruder befahl, er solle sich ducken, damit niemand sein schwarzes Haar und sein jüdisches Aussehen erkennen könne, falls man an einer Ampel halten müsse. Wir sind die Pfaffendorfer Straße hinuntergefahren, und als wir am Tröndlinring waren, wo rechts die Gottschedstraße abging, sahen wir, wie dort die Synagoge loderte. Alles ringsum war noch in Nacht gehüllt, aber die Synagoge loderte. Wir waren liberale Juden. Mein Vater rief: ‚Um Gottes willen!‘ Herr Beinemann war so erschrocken, er hielt an, und wir konnten für Momente die brennende Synagoge sehen. Dann fuhr er weiter und lieferte uns im polnischen Konsulat ab. […].

Wir konnten zwei oder drei Tage später wieder nach Hause gehen. Ich erinnere mich noch genau, daß der 9. und 10. November auf einen Mittwoch und auf einen Donnerstag fielen. Inzwischen lagen halbherzige Zusagen der Verwandten aus Edinburgh und aus Chicago vor, sie würden uns aufnehmen. Mein Vater war beherrscht von der Idee, daß er erst seine achtzigjährige Mutter bei Verwandten in Polen unterbringen müsse, ehe er mit seiner Familie nach Chicago reisen könne“ (Ehlert, Helga: Ich fühle mich nicht als Deutsche, in: Ostow, Robin (Hg.): Juden aus der DDR und die deutsche Wiedervereinigung. Elf Gespräche, Berlin 1996, S. 162–197, hier: S. 166-168).

Emigration

Ehlert und ihr Bruder gelangten mit einem Kindertransport nach England. Ihre Eltern wurden 1939 nach Polen abgeschoben. Ehlert kehrte 1945 wieder nach Deutschland zurück, arbeitete unter anderem an der TU Dresden und ging später nach Berlin.

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