In seinen Erinnerungen berichtet der damals 13-jährige und ebenfalls als ‚Jude‘ verfolgte Justin Sonder von den Chemnitzer Pogromereignissen und die Folgen für seine Familie:
„In der Nacht des 9. November bin ich vom Radau aufgewacht, von unserer Wohnung in der Lindenstraße waren es Luftlinie vielleicht 40 Meter bis zu Schockens. Ich habe das Fenster geöffnet und sah Fackeln, Lichtschein, Männer in Räuberzivil, wie sie mit Beilen die Schaufensterscheiben zertrümmerten.
Mein Vater ist auf die Straße gegangen, als er zurückkam, sagte er wörtlich: ‚In Chemnitz ist der Teufel los. Die Geschäfte sind zertrümmert, die Auslagen geraubt und die Synagoge soll brennen.‘ Mehr wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, auch nicht, dass ein Mord geschehen war. In den Morgenstunden des 10. November bin ich mit den Eltern mit der Straßenbahn nach Hilbersdorf gefahren, dort bestiegen wir einen Bummelzug und fuhren nach Freital. Mein Vater hatte überall christliche Freunde, zu denen sind wir gegangen. In den Nachmittagsstunden bin ich mit meiner Mutter wieder zurück nach Hause. Ich sollte, wenn die Nazis oder die Gestapo zu uns kämen, ihnen sagen, dass mein Vater zu seinem kranken Vater nach Kitzingen gereist sei. Punkt neun Uhr abends klingelte es. Meine Mutter lag schon im Bett, ich war in meinem kleinen Zimmer. Die Nazis fragten mich: ‚Wo ist denn dein Vater?‘ Wie mir eingeimpft worden war, sagte ich: ‚Mein Vater ist schon ein paar Tage nicht mehr zu Hause.‘ ‚Wo ist er denn?‘ ‚Der ist zu seinem kranken Vater gefahren.‘ ‚Wo ist denn deine Mutter?‘ Meine Mutter erschien. Das war schon imposant, wie meine Mutter die Lage beherrschte, wie sie mit der Gestapo verhandelte. Ich sagte hinterher zu ihr: ‚Das war das Größte, was ich von dir je erlebt habe.‘ Sie verhandelte so gekonnt, als wäre sie eine Schauspielerin. Die Gestapo schaute natürlich überall nach und zog dann unverrichteter Dinge wieder ab. Mein Vater blieb wochenlang in Dresden und dessen Hinterland und arbeitete dort in einer Bügelei, um ein paar Pfennige zu verdienen. In Chemnitz tauchte er erst Monate später wieder auf“
(abgedruckt in: Zellmer, Margitta (Red.): Chemnitz – Auschwitz und zurück. Aus dem Leben von Justin Sonder, Würzburg 2013, 27).
Interview mit Justin Sonder
Einen ausführlichen Bericht Sonders für die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung gibt es als Videointerview (zum Pogrom in Chemnitz 1938 ab etwa Minute 01:55):
Sonder überlebte Auschwitz, Todesmarsch und weitere Konzentrationslager. Nach dem Krieg arbeitete er als Kriminalist und war als Zeuge am Prozess gegen den ehemaligen Dresdner Gestapo-Chef Henry Schmidt beteiligt.
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