Bereits an früherer Stelle habe ich auf ein Preisausschreiben von Wissenschaftlern der Havard University von 1939 geschrieben, die Erlebnisberichte über das Leben in Deutschland nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten sammelten. Eine Auswahl der mehr als 250 eingegangenen Manuskripte, die in der Mehrzahl von als Juden verfolgten Menschen stammten, wurde 2009 in deutscher Sprache veröffentlicht (Gerhardt, Uta; Karlauf, Thomas (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009).
Berichte aus der Emigration
Von den Berichten stammten 155 von Personen aus den USA, 31 aus Großbritannien, 20 aus Palästina und sechs aus Shanghai. Deutlich dominierten Texte, die über Erfahrungen aus Berlin (61 Stück) und Wien berichteten (39 Stück). Übereinstimmend heben sie die Bedeutung der Novemberpogrome als Zivilisationsbruch hervor. Sie erlauben nicht nur, die Erfahrungen der Verfolgten während der Pogrome und der oftmals nachfolgenden Konzentrationslageraufenthalte zu untersuchen, sondern geben im Kleinen auch Auskunft zum Verhalten der nichtjüdischen Umwelt.
‚Die Juden!‘
Exemplarisch stehen hierfür die Erinnerungen von Harry Kaufmann, dem Ende 1938 die Emigration aus dem Deutschen Reich gelang (im oben genannten Band S. 323-318). Kaufman schrieb über einen Kinobesuch im Jahr 1937: Unter anderem sei ein Reklamefilm einer Versicherungsgesellschaft gelaufen, bei dem nach einem dargestellten Unfall gefragt worden sei, wer Schuld daran habe. Ein Kinozuschauer habe daraufhin gerufen: ‚Die Juden!‘ und das ganze Publikum habe gelacht.
Einerseits, so jedenfalls auch die Deutung von Thomas Karlauf könne man daraus schließen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung wenig mit der antisemitischen Hetze habe anfangen können, sich vielmehr darüber lustig machte. Allerdings, das scheint mir als Ergänzung notwendig, zeugen der Zwischenruf als auch die Reaktion des Publikums davon, wie weit die antisemitische Propaganda in der Bevölkerung bereits verbreitet war.