Auch Siegfried Gentsch erlebte die Pogromgewalt in Plauen, die er in seinen 1999 erschienenen Kindheitserinnerungen niederschrieb (Gentsch, Siegfried: Meine Kindheit im tausendjährigen Reich. Ein Plauener berichtet aus seinem Leben, Berlin 1999).
Geschäftszerstörungen
Gentsch erinnerte:
„Ein weiteres spontanes, aber dafür um so tiefgründigeres Erlebnis hinterließ bei mir im Jahre 1938 die Reichskristallnacht, wo gerade diese Uniformierten Fenster einwarfen, Läden zerstörten sowie Menschen verschleppten oder fast zu Tode prügelten – und die Polizei sah tatenlos zu oder war überhaupt nicht präsent. Daß es sich bei den betroffenen Personen um Juden handelte, dafür besaß ich als Steppke kein Verständnis; für mich waren es Menschen, denen Böses geschah, denen man eigentlich helfen müßte. Für mich tat sich in diesem Zusammenhang ein tiefer Widerspruch auf. Nämlich der, wenn wir als Kinder eine Fensterscheibe einschlugen oder ein kleineres Kind verprügelten, dann war die Polizei sofort präsent, bestrafte uns und wir bekamen obendrein vom Vater noch Maulschellen. Aber in diesem Falle durften erwachsene Uniformierte all solches tun; ja, sie erhielten von einer nicht geringen Anzahl an Zuschauern Beifall und wurden teilweise sogar aufgefordert, noch härter durchzugreifen. Meinen Vater, der mit diesem pöbelhaften Vorgehen der SA, SS und der Hitlerjugend sicher nicht einverstanden war, erlebte ich das erste Mal sprachlos. Er gab mir auf meine Fragen keine Antwort und versuchte ständig, das Gespräch in eine andere Richtung zu drängen. Meine Mutter erklärte sich mit dem Vorgehen ihrer Parteigenossen nicht einverstanden, denn als sanftmütiger Mensch verabscheute sie gewaltsames Vorgehen gegen Menschen. In ihrer Ratlosigkeit versuchte sie mich und sich selbst mit der Annahme zu beruhigen, daß diese Ausschreitungen offensichtlich nur die Handlung einzelner seien, die vom Führer sicher dafür bestraft würden. us der heutigen Sicht ist eine solche Naivität nahezu erschreckend. Aber es gab eine Reihe anderer, die ebenso dachten und damit ihr eigenes Gewissen beruhigen wollten. In welche Gewissenskonflikte solche Menschen einige Jahre später kommen sollten, kann man nur ahnen“ (S. 13 f.).
Gentsch war im November 1938 gerade einmal sechs Jahre. Er starb 2003 in Plauen.