Obwohl die Ausweitung der Pogromgewalt erst nach zentraler Zustimmung Hitlers erfolgte, liefen ab dem Abend des 9. November 1938 ganz verschiedene Anweisungen und Befehle an die unterschiedlichen Gruppierungen von Staat und Partei. Diese benötigten wiederum unterschiedlich lange, um über die zentralen Dienststellen bis zu den untergeordneten und lokalen Befehlsempfängern durchzudringen. Es gab deshalb auch in Sachsen Fälle, wo etwa Polizisten und Feuerwehrleute zunächst ganz normal ihren Dienst versahen: Sie versuchten trotz der Bedrohung zu löschen oder nahmen Gewalttäter zumindest vorläufig fest – bis sie von den offiziellen Anweisungen Kenntnis erhielten, sich soweit als möglich zurückzuhalten.
Gestapa-Fernschreiben, 9. November 1938, 23:55 Uhr
Kurz vor Mitternacht schickte der stellvertretende Chef des Amtes Politische Polizei im Hauptamt Sicherheitspolizei, Heinrich Müller in Berlin, ein Geheimes Fernschreiben an alle Staatspolizei(leit)stellen. Darin kündigte er an, was vielerorts bereits Realität war: „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen die Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören.“
Es solle lediglich im Zusammenspiel mit der Ordnungspolizei dafür gesorgt werden, dass Plünderungen und besondere Ausschreitungen unterblieben. Außerdem sei Archivmaterial, sofern wichtig, zu beschlagnahmen und die Festnahme von 20.000 bis 30.000, vor allem vermögenden Juden vorzubereiten.
Verfügungstruppen der SS und die Allgemeine SS könnten zur Gesamtaktion hinzugezogen werden.
Reaktion auf den Ausbruch der Gewalt
Das Fernschreiben kann als Reaktion auf den Ausbruch der Gewalt gesehen werden und sollte den örtlichen Gestapo- und Polizeistellen als Handlungsanweisung dienen. Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei, zu der die Gestapo gehörte, reagierte erst eineinhalb Stunden später mit einem eigenen Fernschreiben. Er hielt zunächst noch Rücksprache mit Heinrich Himmler in München.
Abgedruckt in: Kropat, Wolf-Arno: „Reichskristallnacht“. Der Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938, Wiesbaden 1997, S. 213 f.
Der Volltext des Fernschreibens findet sich auch unter: https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/xsrec/current/2/sn/edb?q=YToxOntzOjQ6InplaXQiO3M6OToiOS4xMS4xOTM4Ijt9
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